Jörg Kohr im Interview

Ein Beruf in der Kirche ist ein Beruf mit Sinn, sagt Dr. Jörg Kohr. Im Interview spricht der Leiter der Diözesanstelle „Berufe der Kirche“ und Rektor des Ambrosianums über aktuelle Herausforderungen, seinen eigenen Weg und verrät, warum er das Bewerbungsverfahren für Pastoralreferenten gleich zweimal durchlaufen hat.

Herr Dr. Kohr, was heißt „Berufung“ für Sie?

Seit ich die Diözesanstelle „Berufe der Kirche“ leite, hat sich mir diese Frage noch mal neu gestellt. Ich würde hier unterscheiden: Wenn in einem säkularen Kontext von Berufung gesprochen wird, ist damit gemeint: Jemand macht etwas, das er gut kann. Er bringt seine Fähigkeiten und Talente mit Leidenschaft ein. Im christlichen Verständnis geht es dagegen um eine konkrete Berufung zur Nachfolge Jesu. Dazu bedarf es eigentlich keiner besonderen Fähigkeiten. Geistlich gesprochen geht es um die Frage, wie die Botschaft vom Reich Gottes durch jede und jeden von uns durchlässig und gegenwärtig werden kann: an dem Ort, in der Zeit, in der wir leben. Von Frère Roger gibt es einen schönen Satz: „Lebe das, was du vom Evangelium verstanden hast. Und wenn es noch so wenig ist. Aber lebe es.“

Sie haben acht Jahre als Pastoralreferent in Nagold gearbeitet. Wie kam es dazu? Was ist Ihre ganz persönliche Berufungsgeschichte?

Ein Berufungserlebnis, das ich an einer konkreten Situation festmachen kann, gibt es so nicht. Vieles hat mit meiner Biografie zu tun. Mein Elternhaus ist katholisch geprägt. Religiöse Praxis und Frömmigkeit war nichts, was ich erst hätte suchen müssen. Zum Gottesdienst zu gehen und die Sakramente zu empfangen, war bei uns selbstverständlich. In meiner Jugend gab es viele Momente, wo ich von dem, was da in Gemeinschaft gefeiert wurde, berührt war. Ich war zum Beispiel ein ganz fleißiger Ministrant und oft im Werktagsgottesdienst. Und bei uns gab es regelmäßig den Tag der ewigen Anbetung. Da waren von früh bis spät Minstranten eingeteilt, die auf den Altarstufen am Hochaltar knieten. Das habe ich auch gemacht – zunächst aus einem Pflichtgefühl heraus. Aber irgendwie war da auch etwas zu spüren. Unser damaliger Pfarrer hat uns auch zugetraut, als Jugendliche Liturgie so zu gestalten, dass wir das stimmig fanden. Den äußeren Rahmen meiner „Berufungsbiografie“ bildet also die örtliche Kirchengemeinde. Doch das Faszinosum, das mich wirklich angezogen hat, war letztlich das Evangelium und die umwerfende Botschaft, die da drin steckt. Ich fand es wert, sich dafür einzusetzen.

… und dieser Weg führte nach Tübingen.

Genau. Ich habe damals einmal unseren Oberministranten in seiner WG besucht, der hier Theologie studiert hat. Das, was wir heute Schnuppertag nennen, habe ich einfach selber gemacht, und ich fand das alles richtig gut. Ich habe dann auch wenig über Alternativen nachgedacht. Das Studium war für mich der Weg in einen Beruf, der abwechslungsreich ist, in dem man mit Menschen zu tun hat und in dem es um eine sinnvolle Sache geht. Das hat gepasst.

Sie haben außer Theologie noch Politikwissenschaft studiert und an einem Lehrstuhl für Politische Theorie gearbeitet. Wäre die Arbeit in der Wissenschaft auch eine Option für Sie gewesen?

Eine Zeit lang ja. Ich habe damals nach einem Jahr die Ausbildung als Pastoralassistent abgebrochen, weil der Privatdozent, der meine Magisterarbeit betreut hat, Professor wurde und auf der Suche nach einem Assistenten war. Meine Promotion hat mich sehr viel weitergebracht, aber ich habe einfach nicht das starke Charisma des Wissenschaftlers in mir verspürt. Ich habe mich dann ein zweites Mal in der Diözese Rottenburg-Stuttgart beworben. Wahrscheinlich bin ich einer der wenigen Pastoralreferenten, der zweimal das Bewerbungsverfahren durchlaufen hat.

Wir erleben gerade schwierige Zeiten. Die Kirche hat in den letzten Jahren Vertrauen eingebüßt. Wie die Zukunft aussieht, scheint in vielen Bereichen ungewiss. Warum sollte ein junger Mensch sich heute noch für einen Beruf in der Kirche entscheiden?

Eine schwierige Frage. Ich glaube, dass trotz aller institutionellen Krisen der Kirche dieses Versprechen, dass das ein Beruf mit Sinn ist, weiterbesteht. Dieser Sinn generiert sich aus der Begeisterung für das Evangelium und der Überzeugung, dass das Evangelium der Welt von heute etwas zu geben hat: eine Sinnperspektive, eine Vision der Einheit der verschiedenen Menschen und Kulturen, eine Spiritualität der Versöhnung, geistige Ressourcen zur Bewältigung von Leid und Tod und so weiter. Die Kirche, im Sinne eines Werkzeugs für das Evangelium, nimmt nun Menschen in den Dienst, die für dieses Evangelium tatkräftig Zeugnis ablegen sollen. Bei uns in Deutschland paart sich das derzeit noch damit, dass ein kirchlicher Beruf ein auskömmliches Leben für einen selbst oder für eine Familie ermöglicht. Und ich glaube, dass ein kirchlicher Beruf nach wie vor durch seinen Abwechslungsreichtum interessant ist. Die Kirche, eine Diözese, ist auch eine Art großer „Konzern“, in dem man im Laufe einer Berufsbiographie – ich selber darf das ja in positiver Weise erleben – an unterschiedlichen Stellen arbeiten kann und so ganz verschiedene Arbeitsfelder, Tätigkeiten und Spezialisierungen findet. Das halte ich ganz pragmatisch für einen großen Mehrwert an einem kirchlichen Beruf.

Zu dieser Vielfältigkeit passt Ihre Tätigkeit für die Diözesanstelle Berufe der Kirche, auf deren Home- page man den Slogan findet: „Dein Leben. Deine Berufung. Wir begleiten dich auf deinem Weg.“ Wie sieht diese Begleitung konkret aus, und was ist Ihnen dabei besonders wichtig?

Die gemeinsame Wegstrecke! Sie kann manchmal ganz kurz sein oder in größeren Kontexten verlaufen wie dem Ambrosianum oder dem FSJ Pastoral. Vorgänger auf meiner Stelle haben noch viel am Telefon informiert, damals ein wichtiger Dienst, aber das ist heute nicht mehr so gefragt. Die Begleitung geschieht vornehmlich dort, wo wir schon in Kontakt sind. Ich glaube, dass es eigentlich noch viel mehr Mitarbeiter der Diözesanstelle gibt, die nur auf dem Papier gar nicht so heißen (lacht). Das sind die Kolleginnen und Kollegen vor Ort: die Pfarrer, Pastoralreferenten, Gemeindereferenten, Jugendreferentinnen, Jugendseelsorger, Lehrerinnen, Schulpastoralarbeiter, Tage-der-Orientierung-Teamer, Jugendverbandsleitungen etc. Ich finde, sie alle arbeiten irgendwie bei uns mit. Was mir an dieser Stelle sehr wichtig ist: Wir machen kein Recruiting. Natürlich haben wir das Interesse, dass Menschen einen kirchlichen Beruf ergreifen, aber sie sollen das aus eigener Freiheit tun. Sie sollen zu dem finden, was ihres ist. Ich kann jemanden zu etwas ermutigen, aber ich kann ihn nicht zu etwas drängen. Und auf meinem eigenen Weg habe ich auch selber gemerkt, dass es manchmal auch ein paar Umwege braucht.

Im Jahr 2008 sind insgesamt 13.285 Priester in Deutschland tätig gewesen, 1970 waren es fast doppelt so viele. Welche Konsequenzen ergeben sich durch diesen Wandel in der Berufungspastoral?

Heute haben wir ja mehr pastorale Berufe als 1970, das ist wichtig, denn neben der abnehmenden Zahl der Priester ist die Gesamtzahl der pastoralen Mitarbeiter in unserer Diözese ziemlich konstant. Die Krux ist: Pastorale Mitarbeiter können nicht alles tun, was Priester können. Das stellt natürlich Fragen an das liturgisch-sakramentale Leben der Gemeinden: Wie kann das mit immer weniger Priestern gestaltet werden? Ich glaube, es ist kein gutes Konzept, darauf zu warten, dass sich die Zahl der Priester und die rückläufige Zahl der Gläubigen praktisch aufeinander zuschrumpfen werden. Wenn die Kirche nicht die Zugangswege zum Amt neu bestimmt und die Frage der Macht in der Kirche neu justiert, dann müssen wir in der Folge fragen, was das eng mit dem Zölibat und der Macht verbundene Priesteramt weiter attraktiv macht. Was kann es uns heute sagen? Auch das ist unsere Aufgabe.

Während die Zahl der Priester in Deutschland zurückgeht, steigt der Anteil der Pastoralreferent/innen be- ziehungsweise auch Gemeindereferent/innen. Spricht das für eine erfolgreiche Werbung und Ausbildung in diesen pastoralen Berufen?

Kommt darauf an, würde ich sagen. Das ist von Bistum zu Bistum unterschiedlich und betrifft vor allem die Frage, wie viel Wertschätzung ein Bistum jeder dieser Berufsgruppen oder dieser Dienste und Ämter entgegenbringt. Bislang war in der Diözese Rottenburg-Stuttgart die Wertschätzung Gott sei Dank hoch.

Was zeichnet die Ausbildung in unserer Diözese ganz konkret aus?

Auf alle Fälle, dass wir berufsgruppenübergreifend immer mehr zusammen ausbilden. Wenn die Idee von einer pastoralen Arbeit im Team handlungsleitend ist, dann muss auch die Ausbildung auf diese Art der Arbeit hinführen. Ich glaube, da sind wir in unserer Diözese schon relativ weit. Wichtig ist außerdem die Idee, dass Fort- und Weiterbildung ein andauerndes Thema für eine Berufsbiographie sein sollte. Denn die Qualität der pastoralen Arbeit entscheidet zunehmend über deren Relevanz.

Seit ein paar Jahren bieten Sie in Tübingen ein Orientierungsjahr zwischen Abitur und Studium an. Welche Erfahrungen haben Sie bisher mit dem Ambrosianum College gemacht?

Die Idee eines Orientierungsjahres halte ich nach wie vor für eine sehr gute Idee, weil viele junge Menschen ohnehin ein Übergangsjahr nach dem Abitur machen. Alle, die das Ambrosianum College absolviert haben, empfanden es als wertvolles Jahr, in dem sie für sich Orientierung gefunden haben und als Persönlichkeiten gereift sind. Bis jetzt konnten wir allerdings noch nie alle Plätze vergeben. Man müsste jungen Leuten, die uns noch nicht kennen, nahebringen, dass man für eine gute Berufs- und Entscheidungsfindung nicht nach Australien fahren muss, sondern dass man das auch in Tübingen machen kann. Vielleicht kommt uns ja dabei auch das Bewusstsein für den Klimawandel entgegen. (lacht)

Was würden Sie zum Abschluss Menschen mit auf den Weg geben, die sich für einen Beruf in der Kirche interessieren?

Vor allem die Ermutigung, seiner Intuition zu trauen. Es gibt ja immer äußere Stimmen, die einen davon abhalten wollen und zu etwas Pragmatischem, Nützlichem, vielleicht auch Mainstreamartigerem raten. Dem entgegen gilt es die Frage zu beantworten: Was ist denn meins? Und was sagt mir meine innere Stimme, meine Intuition? Ich glaube, dass wir alle einen göttlichen Kern in uns haben, etwas, das in uns ist und uns einzigartig macht. Es ruft uns zu einer bestimmten Art und Weise zu leben und unserem Leben eine Richtung zu geben. Aber Berufung hat neben dem Innen natürlich auch ein Außen. Deshalb braucht es Menschen, denen ich vertrauen kann, die sagen: Ja, ich glaube, du bist da auf der richtigen Spur, das passt zu dir, das fühlt sich bei dir stimmig an. Junge Menschen müssen Selbstvertrauen oft erst aufbauen, sie trauen sich weniger zu, als sie dürften. Da ist es wichtig, dass es Wegbegleiter und Wegbegleiterinnen gibt. Und das wollen wir im Übrigen auch als Diözesanstelle Berufe der Kirche sein.

 

 Felix Maier

Das Gespräch führten: Maximilian Magiera (22) und Felix Maier (21)