
Man muss nicht viele Erfahrungen in der kirchlichen Praxis gesammelt haben, um zu erkennen, dass sich das Bußsakrament (oder heute: das Sakrament der Versöhnung) in einer Krise befindet. Wahrscheinlich sind es zumeist zwei Fragen, die die Probleme vieler Katholiken mit diesem Sakrament zusammenfassen: Auf einer grundlegenden Ebene: Wozu brauche ich überhaupt göttliche Vergebung, wenn ich Schuld auf mich geladen habe? Auf der anderen Seite geht es um die Gestalt des Sakraments: Wozu braucht es die kirchliche Instanz im Sakrament der Versöhnung? Kann ich das nicht auch einfach persönlich mit Gott ausmachen? Abseits der bekannten Antworten sollen hier einmal einige wenig rezipierte Ansätze der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dargestellt werden.
Vergebung vollzieht sich im katholischen Verständnis – neben zahlreichen außersakramentalen Formen – insbesondere in der Taufe und stetig aktualisiert in Eucharistie und Bußsakrament. Dabei existiert Letzteres in der gesamten Kirche in seiner heutigen Form erst seit etwa tausend Jahren. Bis ins 6. Jahrhundert war es allgemein üblich, nur ein einziges Mal im Leben seine (schweren) Sünden zu bekennen. Dies geschah öffentlich, vor der ganzen Gemeinde, und forderte als Konsequenz den Ausschluss aus der Gemeinde und die Erfüllung schwerer Bußleistungen. Erst wenn der Sünder auf diese Weise Wiedergutmachung geleistet hatte, nahm die Gemeinde ihn feierlich wieder in ihre Mitte auf. Die altkirchliche Bußpraxis bestand also nicht nur in einer persönlichen Buße, sondern zielte auch auf eine Wiederversöhnung mit der Gemeinde; sie beinhaltete eine soziale und eine ekklesiologische Dimension, da sie auf die kirchliche Versammlung, die ekklesia, bezogen war. Nun herrscht in der katholischen Dogmatik die Überzeugung, dass sich zwar die Gestalt eines Sakraments durchaus ändern kann, sein grundsätzlicher Gehalt aber stets erhalten bleibt. Das gilt auch für die Beichte, wenn auch die ursprüngliche soziale und ekklesiologische Dimension hier kaum mehr erkennbar ist, worin eine Weiterentwicklung des Sakraments wünschenswert wäre. Sie ist dennoch immer noch vorhanden, wie Karl Rahner deutlich macht, abgebildet in der Person des Priesters, der hier nicht nur Christus, sondern auch die Kirche repräsentiert, jene Gemeinschaft, aus der ich mich durch meine Sünden ausgeschlossen habe und in die die Kirche mich wieder aufnehmen möchte. Die Praxis der Bußgottesdienste schließt hier an: Wir Christen sind als Gemeinschaft unterwegs, in dieser Gemeinschaft feiern wir gemeinsam, aus dieser Gemeinschaft können wir auch herausfallen. Doch die Vergebung Gottes und die Fürbitte der Kirche ermöglichen ein Ende von Trennung und Ausschluss und einen Neuanfang als Glied des Leibes Christi. Rahner hat all dies noch vor dem Zweiten Vaticanum auf den Punkt gebracht: Das Bußsakrament „ist ein Dialog zwischen Gott und Mensch; es ist Liturgie; es ist ein Bekenntnis der Schuld gegen die heilige Gemeinschaft der Erlösten“.
Die Debatte darum, ob göttliche Vergebung, wie das Bußsakrament sie vor Augen stellt, überhaupt nötig ist, wurde im 20. Jahrhundert auch vor dem Hintergrund der unmenschlichen Verbrechen der Shoa und des Zweiten Weltkriegs geführt. Deshalb befasste man sich mit der Frage, ob solches Unrecht überhaupt vergeben werden könne, was ausgerechnet der jüdische Philosoph Jacques Derrida bejahte. Dies liegt an einer Begriffsunterscheidung, die nach Derrida insbesondere Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz und Paul Ricoeur formuliert haben, an der Unterscheidung zwischen Verzeihen und Vergeben. Verzeihen beschreibt dabei eine Handlung des Verzichts: Indem ich meinem Gegenüber verzeihe, heißt das, dass ich den Unterschied zwischen mir und ihm aufhebe und auf meinen Anspruch darauf, ihn anzuklagen, verzichte. Dem steht Vergebung gegenüber, die über das Verzeihen hinausgeht: Wer vergibt, gibt im Überfluss, er vergisst die Schuld nicht, aber er schenkt einen Neuanfang jenseits der Schuld, er vergibt eben ohne Begrenzung, bedingungslos und ohne Hintergedanken. Für Derrida umfasst Vergebung deshalb nur das, was unverzeihlich ist, all das, was außerhalb der Kraft des Menschlichen liegt. Selbst das, was zwischenmenschliche Verzeihung nicht mehr umfassen kann, kann also in diesem göttlichen Geschenk vergeben werden. Vergebung ist Handeln Gottes, nur er kann sie schenken, was auch im Alten Testament deutlich wird: Das hebräische Verb für „vergeben“ ist eines der wenigen, das nur Gott als Akteur kennt, wie es beim Alttestamentler Andreas Schüle heißt. Gott allein ist es, der unsere menschlichen Grenzen überwinden kann, indem er das Unrecht aufhebt, es vernichtet und so einen echten Neuanfang schenkt, gemäß dem Ausspruch Jesu an die Ehebrecherin: „Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!“ (Joh 8,11)
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GABRIEL HÄUSSLER (25)



