ZUR PERSON
Andreas Holzem (60) ist Professor für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Nach dem Studium der Theologie, Philosophie und Publizistik in München, Münster und Rom wurde er 1993 in Münster promoviert, 1997 habilitierte er sich. Holzem war Gastwissenschaftler an der Dormitio-Abtei in Jerusalem, am German Historical Institute in London und am St. John’s College in Cambridge. Seit 2011 ist er zudem Projektleiter des Sonderforschungsbereiches „Bedrohte Ordnungen“ und setzt sich mit Krisenszenarien für Gesellschaft und Religion auseinander.

1. WAS IST IHRE VORSTELLUNG VON BERUFUNG?
Berufung bedeutet für mich: in dieser Welt, wie sie nun einmal ist, und unter diesen Menschen, die mir gegeben sind, einen Ort der Verantwortung zu finden. Und mich von Gott herausgefordert und getragen zu wissen, wenn ich mich dieser Verantwortung stelle. Berufung ist keine standesbezogene Sonderbegnadung. Sie ist allen Christinnen und Christen geschenkt – und wird es stets von Neuem.

2. EIN FILM, DEN MAN SICH NICHT ENTGEHEN LASSEN SOLLTE?
Von Menschen und Göttern (frz. Original: Des hommes et des dieux, 2010): neun Trappisten-Mönche im Atlas-Gebirge in Algerien. Sie helfen der muslimischen Bevölkerung, und sie leben ihr armes Klosterleben. Sonst nichts. Bis die Radikalisierung alles zerstört …
Ein verborgenes Leben (2019): Franz Jägerstätter, ein einfacher Bauer in Oberösterreich, weigert sich für Hitler in den Krieg zu ziehen. Seine Kirche hilft ihm nicht, sein Dorf verflucht ihn, seine Frau steht es mit ihm durch.
Zwei Filme mit unfasslichen Bildern, still schön und schrecklich eindringlich. Als ich das gesehen hatte, wusste ich, was Christentum ist.

3. WENN SIE GOTT EINE EINZIGE FRAGE STELLEN KÖNNTEN, WELCHE WÄRE ES?
All der Hass, all die Bosheit, all die Wut: wozu?!

4. DER THEOLOGE/DIE THEOLOGIN, DIE SIE AM STÄRKSTEN GEPRÄGT ODER FASZINIERT HAT?
Ich wäre nicht, was ich bin, ohne meinen Lehrer Arnold Angenendt († 2021). Leonardo Boff hat wunderschön über das Sakrament des Kaffeebechers geschrieben – und warum Christentum politisch ist. Otto Hermann Peschs „Katholische Dogmatik in ökumenischer Absicht“ ist theologisch klug, geistlich tief und sprachlich hell.

5. DER FÜR SIE SPANNENDSTE ORT IN DER DIÖZESE?
St. Maria als …“ in Stuttgart. Hat jüngst den zap-Preis für pastorale Innovation gewonnen.

6. WELCHE IST IHRE WICHTIGSTE ERKENNTNIS AUS ÜBER ZWEI JAHREN PANDEMIE?
Wie sehr wir einander als ganze Menschen – körperlich – brauchen. Und wie unfasslich verlogen das ganze Geklatsche gewesen ist für die, die sich für die Rettung schwer Erkrankter kaputtmachen und deren Bedingungen sich dennoch nicht verbessert haben.

7. EIN KLISCHEE, DAS SIE ALS HISTORIKER AUF KEINEN FALL UNWIDERSPROCHEN STEHEN LASSEN KÖNNEN?
Das ‚finstere Mittelalter‘… – und: Die katholische Kirche als ‚Hort des Widerstands‘…

TEXT: FELIX MAIER (23)