
Beim Katholikentag 2022 in Stuttgart begegnete ich eher zufällig einer Gruppe des interweltanschaulichen Vereins Coexister Germany e.V., der zu diesem Zeitpunkt erst zwei Jahre alt war. Die Energie, das Engagement und die Offenheit der Mitglieder für interreligiösen Dialog beeindruckten mich so sehr, dass ich noch am selben Wochenende meinen Mitgliedsantrag stellte.
Einige Monate später traf ich Carolin Hillenbrand bei der Herbsttagung in Worms wieder. Sie ist Mitgründerin des Vereins und war damals als Vorstand aktiv. Ihre herzliche, energiegeladene und offene Art, mit der sie sich für den Verein einsetzt und immer wieder Menschen motiviert, hat mich von Beginn an fasziniert.
Neben ihrem ehrenamtlichen Engagement widmet sie sich auch wissenschaftlich der Frage, welche Rolle Religion für gesellschaftlichen Zusammenhalt spielt. Sie hat Politikwissenschaft, katholische Theologie und Christentum & Kultur studiert und promoviert zu dem Thema „Religion als Kitt oder Keil? Die Rolle der Religion für den gesellschaftlichen Zusammenhalt aus empirischer, ländervergleichender Perspektive“ in Münster.
Für unsere neue Rubrik „Berufen ganz anders“ habe ich Carolin zum Gespräch getroffen, um mit ihr über die Gründungsphase von Coexister Germany und ihr ehrenamtliches Engagement zu sprechen.
Wie bist du zum interreligiösen Dialog gekommen und welche Erfahrungen haben dich dabei besonders geprägt?
Eine Schlüsselerfahrung war mein Auslandssemester 2015 in Südafrika. Ich kannte die Geschichte der Apartheid, hielt sie aber für abgeschlossen und hatte die Vorstellung, in die sogenannte „Rainbow Nation“ zu kommen. Vor Ort wurde mir jedoch klar, wie präsent Rassismus, strukturelle Ungleichheiten und gesellschaftliche Barrieren weiterhin sind. Ich verstand, dass Menschenrechte und Frieden nichts Selbstverständliches sind, sondern aktiven Einsatz und stetige Arbeit erfordern. Diese Erfahrung hat mich nachhaltig geprägt.
Mein Interesse für den interreligiösen Dialog entwickelte sich nicht aus einer persönlichen Betroffenheit, sondern vielmehr aus Neugier und der Auseinandersetzung im Studium. Ich bin behütet in einem religiös homogenen, christlichen Umfeld aufgewachsen und hatte lange kaum Berührungspunkte mit anderen Religionen. Das änderte sich mit meinem Masterstudium in Heidelberg. Weil es dort keine katholische Fakultät gibt, kam ich erstmals intensiv mit evangelischen Studierenden in Kontakt und erlebte lebendige ökumenische Diskussionen. Gleichzeitig gab es an der Universität eine jüdische Hochschule und Islamwissenschaften, wodurch ich an interreligiösen Seminaren teilnehmen konnte. Dort tauchten plötzlich ganz konkrete Fragen auf wie: Können wir miteinander beten? Beten wir zum selben Gott? Solche Begegnungen und Fragestellungen haben mein Interesse für den interreligiösen Dialog geweckt und mich seither nicht mehr losgelassen.
Du bist Mitgründerin des Vereins Coexister Germany e.V., der seine Wurzeln in Frankreich hat. Wann und wie hast du Coexister France kennengelernt?
Parallel zu meiner akademischen Auseinandersetzung mit interreligiösen Fragen lernte ich über Taizé den Gründer von Coexister France, Samuel Grzybowski, kennen. Ich fand ihn unglaublich inspirierend und er erzählte mir viel von Coexister France. Ich fand das Konzept cool und dachte mir: So eine Initiative bräuchten wir in Deutschland auch. Ich wollte herausfinden, ob es ähnliche Initiativen in Deutschland gibt, die vor allem jungen Menschen einen niederschwelligen Zugang zum interreligiösen Austausch bieten, aber das gab es nicht.
Wie entstand der Verein in Deutschland?
Bei einem europäischen Treffen von Coexister France in Berlin lernte ich eine Person aus Mannheim kennen. Gemeinsam begannen wir, eine kleine interreligiöse Lokalgruppe in Heidelberg- Mannheim aufzubauen. Wir trafen uns zunächst einfach im Café und ich lernte junge Menschen aus unterschiedlichen Religionen kennen. Auch über das Cusanuswerk, von dem ich gefördert wurde, ergaben sich Kontakte zu anderen Förderwerken mit evangelischer, jüdischer oder muslimischer Trägerschaft. Das fand ich spannend und setzte mich für die Kooperation dieser Förderwerke ein und spürte, wie bereichernd Perspektivwechsel sein können. Es hat mir viel Spaß gemacht und angesichts der Weltlage habe ich eine hohe Relevanz darin gesehen, was mich motivierte, in das Feld weiter reinzugehen. Mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie spürten wir die Auswirkungen der Krise auf sozialer Ebene: Alle zogen sich in ihre eigenen Bubbles zurück und es war schwer, neue Menschen kennenzulernen. Wir haben aus der Not eine Tugend gemacht. Wir wollten der sozialen Entfremdung etwas entgegensetzen und gründeten mitten in der Pandemie offiziell die interweltanschauliche Jugendbewegung Coexister Germany. Erst trafen wir uns online und dann offline. Es war eine großartige Erfahrung und bis heute ist der Verein ein persönliches Herzensanliegen.
Worin unterscheidet sich Coexister von anderen multireligiösen Initiativen?
Viele bestehende Dialogformate finden auf einer eher akademischen Ebene statt, wir wollten aber einen lebensnahen Zugang. Zudem definieren wir Dialog bewusst als interweltanschaulich, weil wir ein weiter gefasstes Verständnis von Dialog vertreten. Nicht nur zwischen den monotheistischen Religionen, sondern auch mit atheistischen, agnostischen und anderen religiösen Weltanschauungen wollen wir Brücken schlagen und Vorurteile abbauen. Außerdem werden konventionelle Dialoginitiativen oft von älteren oder repräsentativen Personen wie Rabbinern, Priestern oder Imamen getragen und binden kaum junge Perspektiven ein. Und auch bei aktuellen Themen wie Integration und Migration können wir Religionen nicht wegdenken, gerade wenn die Menschen aus Ländern kommen, in denen Religionen ein wichtiger Teil der Lebenswelt sind. Deshalb wollten wir einen praxisnahen und unkomplizierten Zugang zum Dialog für junge Menschen schaffen. Das gelingt zum Beispiel durch Solidaritätsaktionen, bei denen durch gemeinsames Handeln Begegnung stattfindet und Gemeinsamkeiten erkannt werden können. Kurzum, wir haben eine Lücke gesehen und wollten etwas Eigenes.
Welche Strukturen braucht es, um einen solchen Verein aufbauen zu können?
Know-how, Motivation und ein gutes Netzwerk. Wir hatten anfangs neun bis zehn Gründungsstunden und knüpften Kontakte, durch die eine Vereinsgründung überhaupt möglich wurde. Es war eine spannende Phase voller Lernprozesse mit Fragen wie: Wie schreibt man eine Satzung? Wie erhält ein Verein die Gemeinnützigkeit? Dabei mussten wir zum Glück nicht bei null anfangen, sondern konnten schon vorhandene Strukturen auf unseren Kontext übertragen, was sehr hilfreich war. Nachdem wir den Entschluss gefasst hatten, den Verein offiziell zu gründen, haben wir mit viel Energie und Leidenschaft daran gearbeitet, etwas auf die Beine zu stellen. Natürlich gab es Rückschläge – etwa, wenn man auf das Finanzamt wartet oder merkt, wie stark Jugendbewegungen durch Fluktuation herausgefordert sind. Aber wir wollten es versuchen, ganz nach dem Motto: Wir haben nichts zu verlieren, nur zu gewinnen. Gerade junge Menschen, die vor großen Herausforderungen wie einer Gründung stehen, möchte ich daher Mut machen, einfach mal loszulegen und es zu versuchen. Denn Wege entstehen im Gehen. Wir hätten nie geahnt, wohin die Reise führt – und dass wir nur wenige Jahre später mit unserem Engagement den Ehrenamtspreis gewinnen würden. Für den Anfang braucht es vor allem etwas Mut, ein wenig Glück und ein paar motivierte Menschen. Damit lässt sich oft mehr bewegen, als man denkt.
Was kann junge Menschen motivieren, trotz gesellschaftlicher Krisen nicht den Mut zu verlieren und aktiv zu werden?
Ich kann das Gefühl zunächst gut nachvollziehen, weil auch ich mich von Nachrichten oft erschlagen und überfordert fühle. Gerade in Zeiten des Ukrainekrieges oder in der Folge des 7. Oktobers ist ein Ohnmachtsgefühl sehr präsent, weil ich als Einzelperson nichts an der Gesamtsituation ändern kann. Aber genau dann kann es hilfreich sein, sich mit anderen auszutauschen und zu merken, dass andere ähnliche Gefühle teilen. Und dann stellt sich die Frage: Wie komme ich da wieder raus?
Ich glaube, dass Engagement im Kleinen ein erster Schritt sein kann, dem Gefühl etwas entgegenzusetzen. Denn für mich ist es verbunden mit enormen Wirksamkeitserfahrungen, bei denen ich, auch wenn sie nur ganz klein sind, merke, hier passiert gerade etwas, hier kann ich etwas bewegen, hier kann ich wirksam sein. Es sind Gänsehautmomente und ergreifende Erfolgsgeschichten, bei denen ich merke, dass Frieden im Kleinen anfängt. Das funktioniert aber nur im Zusammenschluss mit anderen Menschen, die sich für ähnliche Ziele und Werte einsetzen. Mein Plädoyer ist daher, zu schauen, welche Initiativen es vor Ort gibt, und sich zu fragen, wofür brenne ich und was ist mir wichtig. Choose your battle. Ich kann mich in vielen Bereichen engagieren und mich entscheiden, welcher Bereich sich für mich stimmig anfühlt.
Aus welchen Erfahrungen schöpfst du Motivation für dein Engagement?
Ich habe eine Familie kennengelernt, die erst vor kurzem nach Deutschland geflüchtet war und grausame Erfahrungen gemacht hat. Sie fühlten sich hier verloren und wussten nicht, wie es weitergehen würde. Wir haben sie deshalb zu einem Begegnungswochenende von Coexister mitgenommen mit vielen Begegnungen und tollem Programm, bei dem sie ganz selbstverständlich dazugehörten. Wie stark das erfahrene Zugehörigkeitsgefühl für sie war, merkte ich an Sätzen wie: „Du bist meine erste deutsche Freundin.“ und „Das ist das schönste Wochenende meines ganzen Lebens.“ Für mich war es nur ein Wochenende, aber diese scheinbar kleine Erfahrung bedeutet für andere die Welt und solche persönlichen Geschichten sind sehr motivierend. Wenn Menschen mit einer Fluchtgeschichte und wenig Deutschkenntnissen nach einem Jahr selbst dieses Wochenende organisieren, dann ist Integration kein abstrakter Begriff mehr. Ehrenamt scheint oft zeitaufwendig und energieraubend zu sein, aber diese Momente haben bei mir eher mehr Energie freigesetzt. Das Geben und Nehmen und die geteilte Freude, das empfinde ich als wertvolle Bereicherung. Zudem glaube ich, dass es mehr Kraft gibt, sich für statt gegen etwas einzusetzen. Denn positive Erfahrungen zeigen reale Handlungsoptionen, machen erfahrbar, wofür sich der Einsatz lohnt.
Du befasst dich auch wissenschaftlich mit dem Thema von Religion und Gesellschaft. Wie verknüpfst du Theorie und Praxis?
Ich habe bei meiner Studienwahl bewusst Politikwissenschaft und Theologie kombiniert, weil ich darin zwei zentrale gesellschaftsprägende Kräfte sehe und ich in dem Studium eine praktische Relevanz gesehen habe. Als ich mich dann entschied, mit einer Promotion am Exzellenzcluster der Religion und Politik weiterzuarbeiten, wollte ich nicht in meinem Elfenbeinturm bleiben, sondern meine Forschung sollte mich für mein Engagement in der Praxis informieren. Umgekehrt haben mich meine Erfahrungen in meiner Forschung inspiriert und mich auf neue Forschungsfragen gebracht. Für mich sind das zwei Seiten einer Medaille und es ist mir ein großes Anliegen, Wissenschaft und Praxis in eine gute Balance zu bringen.
Welche Verantwortung trägt die Politik in Bezug auf interweltanschaulichen Dialog?
Zunächst braucht es Wertschätzung und ein Bewusstsein dafür, wie wichtig multireligiöse Initiativen sind. Zwar steigt angesichts religiös motivierter Anschläge das öffentliche Interesse daran, doch interreligiöser Dialog ist kein Feuerlöscher, sondern eine präventive Kraft, die früher ansetzen muss. Seitens der Politik braucht es eine religiöse Kompetenz (religious literacy), welche religiöse Akteure als Ressource in Diskurse einbezieht und nicht nur als potenzielles Problem versteht. Wenn Religionen nicht Teil der Lösung sind, bleiben sie Teil des Problems. Auf lokaler und regionaler Ebene gibt es gute Beispiele für multireligiöse, ehrenamtlich getragene Initiativen. Diese Arbeit braucht eine stärkere, politische Unterstützungsinfrastruktur, zum Beispiel durch finanzielle Förderung, weil multireligiöse Initiativen meistens auf öffentliche Fördermittel angewiesen sind. Gerade in Krisenzeiten wird jedoch zuerst an Demokratieförderungsprogrammen gespart, dabei wirkt es sich langzeitig negativ aus. Aktuell versuchen wir zum Beispiel, ein Hauptamt aufzubauen, weil wir bisher alles ehrenamtlich stemmen. Ohne externe Unterstützung ist das kaum realisierbar. Oft wird betont, wie wichtig das Engagement junger Menschen sei – doch es braucht kein Lob, sondern konkrete Förderung: durch Räume, Strukturen und finanzielle Mittel.
Was bedeutet für dich Berufung?
Berufung spielt eine zentrale Rolle in meinem Leben. Mit 15 habe ich mich mit einer Bucketlist gefragt: Wozu bin ich eigentlich auf dieser Welt? Was hat Gott mit mir vor? Für mich ist Berufung kein fixer Plan, sondern ein dynamischer Prozess. Ich stelle mir vor, dass ich immer wieder vor verschiedenen Türen stehe und durch die gehe, die sich in dem Moment stimmig anfühlt. Meist öffnen sich dahinter weitere Türen. Der Gedanke, dass es nicht nur den einen „richtigen“ Weg gibt, gibt mir Gelassenheit, nicht viel falsch machen zu können. Vor wichtigen Entscheidungen ziehe ich mich oft nach Taizé zurück, ein Ort, der für mich zur Kraftquelle geworden ist. Dort komme ich zur Ruhe, jenseits von Erwartungen, und frage mich: Wo zieht mein Herz mich hin? Wo kann ich einfach ich sein? Wenn Intuition und Herz sprechen, höre ich darin Gottes Stimme. Das ist für mich der Moment, an dem ich eine Art der Berufung spüre. Und ich vertraue darauf, dass Gott mit mir geht, auch wenn ich Umwege gehe, in Sackgassen lande oder rückwärtslaufe. Gott geht mit. Berufung ist für mich dort, wo mein Herz hängt und ich ganz ich selbst sein kann. Sie gibt Orientierung auf dem Weg und darf sich dabei auch verändern.
ZUR PERSON
Carolin Hillenbrand ist 32 Jahre alt und arbeitet in Bonn als Referentin für das Cusanuswerk. Sie hat Politikwissenschaft und katholische Theologie in Mainz und anschließend Politikwissenschaft und Christentum & Kultur in Heidelberg studiert, bevor sie in Münster zu dem Thema „Religion als Kitt oder Keil? Die Rolle der Religion für den gesellschaftlichen Zusammenhalt aus empirischer, ländervergleichender Perspektive“ promovierte. Sie ist Mitgründerin des interweltanschaulichen Vereins Coexister Germany und engagiert sich ehrenamtlich für Frieden und Dialog.


