
Warum sollte ich ausgerechnet in Deutschland Priester werden – dort, wo die katholische Kirche in der Krise steckt und immer weiter schrumpft? Warum bin ich nicht in Indien geblieben? Diese Fragen stellte sich Sebin Joseph Mattappallil zu Beginn seines Theologiestudiums in Tübingen. Im März 2025 wurde er zum Diakon geweiht und ist nun in der Seelsorgeeinheit Marchtal tätig. Er entschied sich für eine Ausbildung in Deutschland und wird 2026 zum Priester geweiht. Wie kam es zu seinem Sinneswandel? Was sind seine Aufgaben als Diakon und wie sieht er die Kirche in Deutschland? Darüber habe ich mit ihm bei einem Besuch in Obermarchtal gesprochen.
Sebin und sein Mitseminarist Joji haben Anzüge angezogen, als Martin Fahrner, der Leiter des Tübinger Wilhelmsstifts, sie am 6. Dezember 2017 gemeinsam mit einem Studenten am Flughafen in Stuttgart abholt. Sie haben sich extra schick gemacht, denn in Deutschland tragen alle Anzug, so hat man es ihnen gesagt. Kurze Zeit später sitzen sie in Tübingen im Speisesaal des Stifts – keiner außer ihnen trägt Anzug.
Von Temperaturen um die 30 Grad in ihrer Heimat sind sie nun im deutschen Dezember-Wetter gelandet. Auch wenn sie viel Unterstützung bekommen hätten, seien der Umstieg und das Ankommen hart gewesen, erzählt Sebin. Hinzu kommt die Sprachbarriere: Wenn man kaum Deutsch kann, wird Schwäbisch zur echten Herausforderung. Die beiden besuchen einen Deutschkurs und schon im September 2018 beginnen sie Latein, Griechisch und Hebräisch am Ambrosianum zu lernen. Aber nicht nur die Sprache, sondern vor allem die deutsche Kultur machen Sebin das Ankommen schwer. Er hat einen regelrechten Kulturschock. Seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter am Ambrosianum können locker abends Party machen und früh morgens in Latein auf die Fragen des Lehrers antworten – für Sebin unglaublich.
Sebin ist in seiner Heimaterzdiözese Tellicherry mit 15 Jahren ins Priesterseminar gekommen. Nach seinem Schulabschluss hat er dort drei Jahre Philosophie studiert. In der Ausbildung zum Priester wären in Indien darauf ein praktisches Jahr, dann drei Jahre Theologiestudium und dann die Diakonenweihe gefolgt. Doch nach dem Philosophiestudium hat ihn sein Bischof gefragt, ob er sich vorstellen könne, seine Ausbildung in Deutschland weiterzumachen. Er hat zugestimmt. Der Vertrag, den die Diözese Rottenburg-Stuttgart mit seiner Heimaterzdiözese geschlossen hat, sieht vor: Sebin macht in Deutschland seine theologische Ausbildung, dafür bleibt er danach zehn Jahre dort als Priester.
Nach dem Sprachenlernen beginnt Sebin im Oktober 2019 das Theologiestudium. „In Tübingen zu studieren, war für mich eine Ehre“, sagt er. Die Theologische Fakultät in Tübingen habe in Indien einen guten Ruf. Doch in seiner ersten Vorlesung habe er nichts verstanden, erzählt er lachend. Kurze Zeit später fängt die Corona-Pandemie an. Die Kontakte sind eingeschränkt. Die Vorlesungen schaut Sebin sich wie alle anderen online an und sitzt allein im Wilhelmsstift. In dieser Zeit zweifelt er an seinem Weg und fühlt sich unwohl. Er vermisst seine Heimat und fragt sich, warum er ausgerechnet in einem Land Priester werden soll, in dem Kirchenaustritte und gesellschaftliche Ablehnung zunehmen. Aber Sebin entscheidet sich bewusst, den Weg weiterzugehen: „Gott möchte, dass ich hier diene.“ Mit seiner Entscheidung geht es ihm besser. In dieser Zeit hätten ihm der damalige Repetent Andreas Kirchartz, Spiritual Uwe Thauer und der Direktor des Wilhelmsstift, Martin Fahrner, sehr geholfen, sagt er.
Es ist ein sonniger Tag, als ich Sebin im Juli in Obermarchtal besuche. Der geschotterte Weg führt mich durch den Torbogen auf die Anlage des ehemaligen Prämonstratenserklosters. Gegenüber der Kirche liegt das Pfarrhaus, in dem auch Sebin wohnt. Er hat für uns gekocht. Das Essen steht schon auf dem Tisch, als ich komme. Es gibt Reis und Kichererbsen. Wir unterhalten uns über das Studium. Er fragt, wie es in Tübingen ist, erzählt aus seiner eigenen Studienzeit. Die Katholische Kirche in seiner Heimat sei deutlich konservativer, da war die Theologie in Tübingen durchaus gewöhnungsbedürftig. Am Anfang habe Sebin Schwierigkeiten mit dem Fach Praktische Theologie gehabt. Aber er hat sich auf das Studium eingelassen. Ein paar Semester später hat er in der Praktischen Theologie eine Arbeit über postkoloniale Theologien geschrieben. Sein Lieblingsfach sei aber immer die Philosophie geblieben, seit seinem Studium in Indien. Das Theologiestudium in Tübingen habe ihn unterstützt, offener zu werden und sich persönlich weiterzuentwickeln, erzählt Sebin.
Stolz zeigt er mir seine Magisterarbeit, die direkt im Regal neben seinem Schreibtisch steht. Darin hat er sich mit der Vernunftreligion beschäftigt. Ihn interessiert die Frage, wie Religionen ohne Konflikte existieren und miteinander auskommen können. Nach der Priesterweihe plant er zu promovieren, auch in der Philosophie.
Sebin erzählt mir von guten Freundschaften, die er in den acht Jahren, die er nun in Deutschland ist, geschlossen hat. Viele davon in Tübingen, was von Obermarchtal eine gute Stunde Autofahrt entfernt liegt. Sebin scheint zufrieden mit der Entscheidung für seinen Beruf und diesen Lebensweg. Aber „Gott allein reicht auch nicht, du brauchst schon Menschen um dich herum“, sagt er. Umso mehr freut er sich über Kontakte in der neuen Gemeinde. Letztens hat ihn eine Familie mit zu einem Ausflug eingeladen und wieder eine andere zum Mittagessen.
In der Seelsorgeeinheit Marchtal übernimmt Sebin verschiedene Aufgaben. Er tauft, beerdigt und assistiert im Gottesdienst. Vier Stunden in der Woche unterrichtet er am Kreisgymnasium Riedlingen Katholische Religion. In der achten und elften Klasse fühlt er sich dort sehr wohl. Auch mit den Ministrantinnen und Ministranten hat er ab und zu zu tun. Am nächsten Tag geht es auf einen gemeinsamen Ausflug nach Biberach in den Klettergarten. Regelmäßig besucht er ältere Leute und spendet ihnen die Krankenkommunion, so auch heute Nachmittag. Sebin holt seine Stola, die auf der einen Seite violett, auf der anderen weiß ist. Dazu ein kleines Buch, in dem Gottesdienstabläufe und Texte für Rituale wie dieses stehen und eine kleine lederne Tasche, in der sich die Kommunion befindet. Wir gehen aus dem Pfarrhaus hinaus und verlassen die Klosteranlage. An diesem Tag sind viele Touristinnen und Touristen unterwegs. Entlang einiger Radfahrender und am Restaurant vor den Klostermauern vorbei laufen wir ein paar wenige hundert Meter zu Frau D. Sebin war schon öfter bei ihr und freut sich schon, sie wiederzusehen. Einmal im Monat besucht er sie. Pünktlich um 14 Uhr klingelt er an der Haustür des kleinen Einfamilienhauses. Eine kleine, schmale Frau öffnet uns. Sie hat uns bereits erwartet und bittet uns ins Wohnzimmer. In der Ecke des kleinen Raums gruppieren sich ein Sofa und zwei Sessel um einen Couchtisch. Über dem Sofa hängen drei gerahmte Bilder, jeweils Vater und Mutter mit mehreren Kindern. Das sind ihre Kinder und Enkelkinder, erzählt uns Frau D. später stolz. Wir setzen uns. Sebin betreibt etwas Smalltalk und sagt dann: „Dann beten wir jetzt erstmal, bevor wir das vergessen, und dann trinken wir Kaffee.“ Frau D. zündet die Kerze auf dem Tisch an, die sie schon bereitgestellt hat. Sebin steht auf und legt sich die Stola mit der violetten Seite nach oben über die Schulter. Er faltet das Korporale, das wie eine Leinenserviette aussieht, auf dem Tisch auf und legt die goldene Pyxis darauf, in der sich die Hostie befindet. Wir beginnen mit dem Kreuzzeichen. Sebin liest etwas aus dem Rituale. In den Fürbitten beten wir für uns alle drei, die wir hier in Frau D.s Wohnzimmer sitzen. Nach dem Vater Unser spendet Sebin Frau D. die Kommunion und wir halten einen Moment Stille.
Kurze Zeit später löscht Frau D. die Kerze. Jetzt ist der zweite Teil dran, der mindestens genauso wichtig ist: das Kaffeetrinken. Wir begleiten sie in die Küche, um ihr bei den Vorbereitungen zu helfen. Auf einem Tablett liegen bereits Gabeln, ein Kuchenheber, geblümte Servietten und Teller. Während das Wasser für den Kaffee heiß wird, treten wir auf den Balkon. Die Tür mit Fliegengitter, die Balustrade, die Balkonfliesen – alles ist schon etwas älter. Frau D. sagt, daran etwas zu verändern, würde sie ihren Nachfolgern überlassen. In Kübeln wachsen hier oben Gurken und Tomaten, die sie uns stolz präsentiert. An der Wand daneben steht ein Gartenstuhl. Auf dem sitze sie immer und habe alles im Blick. Von dem Balkon aus haben wir tatsächlich einen wunderbaren Blick über die gesamte Siedlung, die sich auf dem gegenüberliegenden Hügel erstreckt. Ein Nachbar arbeitet unten auf seiner Baustelle. Er schaut hoch, grüßt und fragt, wer wir seien. Frau D. ruft ihm verschmitzt zu: „Tätest in d’Kirch ganga, kenntsch’n“, und zeigt auf Sebin.
Das Wasser ist heiß. Frau D. gießt drei Tassen koffeinfreien Kaffee auf, ich schneide die Himbeertorte und wir tragen alles ins Wohnzimmer. Bei Kaffee und Kuchen erzählt Frau D. von ihrer Familie, wer gerade wo ist und welche Wege ihre Enkelinnen und Enkel gehen. Sie zählt Sebins Vorgänger auf, die sie alle regelmäßig besucht und ihr die Krankenkommunion gespendet haben. Nach einer knappen Stunde brechen wir wieder auf. Auf dem Rückweg sagt Sebin zu mir: „Wenn ich solche Begegnungen habe, dann fühle ich mich nicht einsam.“ Am 27. Mai nächsten Jahres wird Sebin in seiner Heimatkirche, der St. Mary’s Church in Badiadukka, zum Priester geweiht werden. 40 Menschen werden aus Deutschland dafür nach Indien fliegen. Nach der Weihe kommt Sebin aber erstmal wieder zurück nach Deutschland, so ist es im Vertrag zwischen den Diözesen festgelegt. Was die Kirche in Deutschland von der katholischen Kirche in Indien lernen kann, habe ich ihn gefragt. „Mehr unter den Menschen zu sein“, sagt Sebin.
TEXT
JOHANNA MÜLLER (22)



