Mit 13 dachte sie sich, eine Christin muss auch die Bibel gelesen haben. Einige Kapitel lang empfindet Katrin Brockmöller die Lektüre nicht als besonders spannend, doch dann spricht ein Vers sie an. Warum und wie sich ihr Weg seit diesem Begeisterungsmoment weiterentwickelt hat, erzählt die Leiterin des Katholischen Bibelwerks im Interview.

Frau Brockmöller, wie kamen Sie denn zum Bibelwerk?
Mitglied im Bibelwerk bin ich seit meinem ersten Semester des Theologiestudiums, weil der Professor fürs Neue Testament gesagt hat: Wenn man etwas mit der Bibel machen will, muss man da Mitglied sein. Also bin ich beigetreten, das war gar keine Frage. Am Ende des Studiums habe ich überlegt, ob ich dort arbeiten könnte, es war aber keine Stelle frei. So habe ich zunächst promoviert und war dann in der Bildungsarbeit aktiv. Als dann 2013 die Ausschreibung für die Neubesetzung der Direktorenstelle kam, habe ich es probiert. Jetzt bin ich dort schon über sechs Jahre und es macht mir sehr viel Freude. Es ist so eine vielfältige Arbeit, jeder meiner Tage ist anders.

Was ist das Bibelwerk und was macht es?
Wir sind ein Verein von Gläubigen mit ca. 15.000 Mitgliedern. Gleichzeitig koordiniert das Bibelwerk die bibelpastorale Arbeit für die Deutsche Bischofskonferenz. Gegründet wurde der Verein 1933 in Stuttgart, da sitzen wir bis heute, und der Bischof von Rottenburg-Stuttgart ist unser Schirmherr. Deshalb gibt es eine sehr schöne und für alle bereichernde Zusammenarbeit hier in Rottenburg-Stuttgart. Zudem gibt es in jeder Diözese eine Diözesanleitung, die unsere Materialien weiterverteilt. Unser grundsätzlicher Satzungszweck ist es, allen Menschen die Bibel zu erschließen. Das machen wir durch Bildungsveranstaltungen zur Bibel, durch unsere zwei Mitgliederzeitschriften „Bibel heute“ und „Bibel und Kirche“, das Magazin „Welt und Umwelt der Bibel“ und unterschiedlichste weitere Materialien. Weltweit sind wir in dieser Intensität ein einzigartiges Netzwerk.

Was ist denn zurzeit ein besonders spannendes Projekt?
Zum Beispiel das Evangelium in Leichter Sprache. Da werden die Sonntagsevangelien in ganz einfaches Deutsch übertragen, damit auch Menschen, die nicht so gut Deutsch können oder die kognitiv eingeschränkt sind, die Texte verstehen. Die Arbeit des Teams rund um die Leichte Sprache hat mich sehr bewegt und verändert. Man lernt so viel darüber, wie Leute mit einem Text umgehen. Menschen mit hoher Lesekompetenz können über Begriffe oder Sätze, die sie nicht verstehen, einfach hinweglesen. Dabei hilft ihnen die Erfahrung, das wird sich schon erklären. Je niedriger aber die Lesekompetenz ist, umso stärker bleibt man hängen, denkt nach … und kommt dann überhaupt nicht mehr bis zum nächsten Satz und der ganze Text bleibt ein Rätsel. Diese Erkenntnis hat mich extrem beeindruckt, weil das an unsere Verkündigung die drängende Frage stellt: Wie viele Menschen schließen wir allein durch unsere Sprache eigentlich aus?

Diese Idee, den Menschen die Schrift zu erschließen, hat mich angetrieben, seit ich ein Teenager bin.

Und was reizt Sie besonders an der Arbeit im Bibelwerk?
Irgendwie habe ich das Gefühl, ich bin nach Hause gekommen mit dem Bibelwerk. Diese Idee, den Menschen die Schrift zu erschließen, hat mich angetrieben, seit ich ein Teenager bin. Ich habe auch Theologie studiert, weil mich die Bibel interessiert hat. Mein Impuls war immer, die biblischen Texte mit anderen zu lesen und da Stärkung, Trost, Erfüllung und Gottes Nähe zu finden. Wenn Menschen plötzlich entdecken, wie nah die Bibel an ihrem Herzen ist und wie lebendig sie ist, dann habe ich das Gefühl, alles richtig gemacht zu haben und genau dafür auf der Welt zu sein.

Provokant gefragt: Viele halten die Bibel doch für ein veraltetes, verstaubtes Buch. Wie kommt es, dass sie heute noch etwas anrühren kann?
Weil das Geschichten sind, die das Leben geschrieben hat, und wir das zutiefst brauchen – sage ich jetzt mal ein bisschen pathetisch. Mich berührt immer: Unsere Mütter und Väter im Glauben haben Erfahrungen gemacht. Sie haben geliebt, gestritten, Gottes Nähe erfahren, Gottesferne erfahren, sie haben die Welt gesehen und wussten nicht: Wie hält das alles zusammen? Papst Franziskus hat einmal geschrieben, dass wir unbedingt Geschichten brauchen, in die wir uns selbst versenken können. Im Leben der anderen können wir erkennen, wo es dunkel war und wo – und wie – es wieder hell wurde. Wir können uns dann in die Geschichte so hineinverweben, dass es für uns selbst hell wird, wenn wir sie lesen. Papst Franziskus sagt auch: Genau in diesen Geschichten lernen wir etwas über die Präsenz Gottes. Und wenn wir diese Geschichten lesen, lernen wir auch, Geschichten über unser eigenes Leben so zu erzählen, dass Raum bleibt für Erlösung und Heil, also dass es nicht nur Unglücksgeschichten sind. Das wäre so eine Spur, die gut zu mir passt.

Im Leben der anderen können wir erkennen, wo es dunkel war und wo – und wie – es wieder hell wurde.

Wenn man die Bibel liest, stolpert man immer wieder über Stellen, da muss man erst mal schlucken. Wie gehen Sie denn mit sperrigen Bibelstellen um?
Man muss natürlich die Texte genau lesen und schauen, was eigentlich gemeint ist. Und man muss die Kontexte und die Begriffe klären, die Texte auch historisch einordnen. Oft ist unser Verstehen und Empfinden anders als vor 2.000 Jahren. Dann muss man auch mal „Nein“ sagen. Aber das praktizieren wir ja normalerweise auch: Wir essen nicht koscher, obwohl das in der Tora vorgeschrieben ist. Der Umgang mit solchen Stellen ist eigentlich eine Bildungsaufgabe. Manchmal, glaube ich, laufen die Prediger und Predigerinnen vor der Aufgabe davon, weil sie nicht so leicht ist. Die Bibel ist ein unglaublich dickes Buch und man hat ja ein ganzes Leben Zeit!

Sie sind Beraterin im Forum „Gelingende Beziehungen“ beim Synodalen Weg. Wie hängen denn der Synodale Weg und die Bibel zusammen?
Ein gutes Beispiel dafür sind die Paulusbriefe und ihre Aussagen zur Homosexualität. Auch Aussagen wie aus Röm 1,26f. muss man historisch einordnen: Die römische Gesellschaft kannte das System, dass erwachsene Männer jüngere Sklaven als Lustknaben vergewaltigt haben. Das ist aber natürlich nicht das Gleiche, wie wenn zwei ebenbürtige Männer mit- einander entscheiden, dass sie eine liebevolle Beziehung führen wollen. Diese historischen Kontexte immer neu ins Bewusstsein zu bringen, ist eine Aufgabe für uns im Bibelwerk, die nie zu Ende geht. Ich gebe schon zu, das ist manchmal anstrengend, weil es einfacher ist, zu sagen: Aber Paulus hat das auch schon so und so gesagt. Glücklicherweise gibt es in allen Foren einen starken Impuls, biblische Texte in einer modernen und aufgeklärten Hermeneutik zu verwenden.

Bevor Sie Leiterin des Bibelwerks geworden sind, waren Sie acht Jahre lang Dozentin am Theologisch-Pastoralen Institut für Fort- und Weiterbildung pastoraler Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Diözesen Limburg, Mainz und Trier. Aus dieser Erfahrung heraus: Wie bringt man gute Pastoral und Bibel zusammen?
Das gibt es gar nicht ohne, finde ich. Wenn ich als Gemeinde- oder Pastoralreferentin arbeiten würde, wüsste ich gar nicht, was ich ohne die Bibel machen soll. Es gibt Methoden wie die Lectio Divina oder den Bibliolog, auch echte Herzensprojekte von mir. Bei diesen Methoden belehrt nicht jemand Studiertes die anderen, sondern sie bringen stark das „Volk“ zum Sprechen über die Erfahrungen, die sie mit den Texten machen. Einige Bibelgruppen melden zurück, dass dieses gemeinsame Lesen und aufeinander Hören auch die Wahrnehmung füreinander verändert. Das schafft mehr Pluralität und das brauchen wir in unserer Kirche unbedingt: mehr Anerkennung für unterschiedliche Facetten und Formen, den Glauben zu leben. Dass es nicht darum geht, dass man recht hat, sondern, dass jeder versucht seinen Glauben einzubringen, ihn zu leben, zu teilen. Eine echte Vision von mir ist, dass wir aufhören uns gegenseitig den Glauben abzusprechen.

Das brauchen wir in unserer Kirche unbedingt: mehr Anerkennung für unterschiedliche Facetten und Formen, den Glauben zu leben.

Und wenn jemand gar keinen Zugang zur Bibel hat?
Ich glaube, das Wichtigste ist, dass man von niemandem verlangt, wortwörtlich zu glauben. Und damit sind viele Menschen immer noch konfrontiert. Dieses Vorurteil muss man aufbrechen. Und wenn jemand bereit ist, einfach mal anzufangen, diese Texte als literarische Texte zu lesen, dann kann man sich kaum dem Zauber entziehen.

Wenn jemand bereit ist, einfach mal anzufangen, diese Texte als literarische Texte zu lesen, dann kann man sich kaum dem Zauber entziehen.

Wenn Sie schon den ganzen Tag auf der Arbeit mit der Bibel zu tun haben, spielt sie dann überhaupt noch eine Rolle in Ihrer Freizeit?
Ich lebe auch in meiner Freizeit von der Bibel. Zum Beispiel nehme ich alle 14 Tage an einer Bibelgruppe teil, bei der wir wirklich auf einer emotionalen Ebene sprechen. Und daheim am Esstisch liegt immer eine Bibel. Ich schaue fast jeden Tag die Tageslesung an, wenn auch unterschiedlich intensiv. Aber ich gehe einfach gerne selbst in die Texte rein und es „verwebt“ sich dann auch mit mir.

War das denn schon immer so? Wie haben Sie selbst einen Zugang zur Bibel gefunden?
Irgendwann in der Pubertät habe ich mir gedacht: Wenn man christlich leben will, muss man auch die Bibel lesen. Also habe ich angefangen, bei Matthäus, denn ein Altes Testament hatte ich damals gar nicht. Ich bin bis zum elften Kapitel gekommen und bis dahin fand ich es mäßig spannend, aber dann habe ich gelesen: „Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten tragt. Ich werde euch Ruhe verschaffen.“ Das hat mich so getroffen! In meiner Teenager-Depriphase fand ich schon, dass ich es sehr schwer hatte. Und dann lese ich das und habe das Gefühl, ich werde direkt angesprochen. Das war die erste Bibelstelle, die mich wirklich berührt hat.

TEXT: ELISABETH BÖCKLER (23)