
Der erste Adventssonntag bedeutet für uns Christ:innen eigentlich einen dreifachen Neuanfang: An diesem Tag beginnt ein neues Kirchenjahr, der Weihnachtsfestkreis und natürlich der Advent. Wenn wir in den kommenden Wochen das Fest der Geburt Jesu erwarten, heißt das auch: Wir feiern, dass Gott Mensch wurde und damit die Logik der Welt unterbrach. Er kam nicht als herrschender Souverän, sondern als Kind in diese Welt. Nicht mit Macht, sondern in Ohnmacht. Diese Umkehr der Verhältnisse ist der Neuanfang schlechthin.
So heißt es auch in einem bekannten Adventslied: „O Herr, wenn du kommst, wird die Welt wieder neu“. Doch wie soll ein solcher Neuanfang in unserer Gegenwart konkret aussehen? Was ist es, das wir in den kommenden Wochen so sehnlich erwarten? Eine Ahnung davon können uns die prophetischen Worte zur Völkerwallfahrt geben, die wir am ersten Adventssonntag in der Lesung aus dem Buch Jesaja hören:
„Am Ende der Tage“ werden viele Völker zum Gottesberg Zion ziehen, um von Gott dort durch die Vermittlung des Volkes Israel und seiner Tora neue Wege der Konfliktlösung zu lernen. Da die liturgischen Texte in der Zeit bis zum 17. Dezember vor allem vom Ausblick auf die Wiederkunft Christi am Ende der Zeiten geprägt sind, ist es kaum verwunderlich, dass wir auch diesen Text wie eine endzeitliche Vision hören – hat sie doch mit der Welt, in der wir leben, nur wenig zu tun: Während Menschen einander in Kriegen Gewalt antun und die weltpolitische Lage sich zunehmend radikalisiert, klingt ein solcher Text in unseren Ohren eher wie ein unerfüllbarer Wunschtraum.
Umso mehr lohnt es sich an dieser Stelle, einen Blick in den hebräischen Text des Jesaja-Buchs zu werfen: Während in der Einheitsübersetzung in V. 2 vom „Ende der Tage“ die Rede ist, heißt es dort auf Hebräisch bᵉʾacharít ha·yyamím – „in künftigen Tagen“. Der Text beschreibt also eine Wende der Geschichte, die zwar in der Zukunft liegt, aber eben nicht erst im Eschaton anbricht. Im Gegenteil: Weil JHWH alle Streitigkeiten der Nationen untereinander schlichten wird, können schon heute tödliche Waffen in lebensförderliche Ackerbaugeräte für Brot und Wein umgeschmiedet werden. In allen Kriegen der Welt, aber auch in allen ungerechten Konflikten in unserem Umfeld sollen wir schon heute dieser Friedensvision entgegenstreben und neue Wege der Konfliktlösung vorleben – oder in den Worten des Liedes: „O Herr, wenn du kommst, wird die Welt wieder neu, denn heute schon baust du dein Reich unter uns.“
Der Neuanfang, den der Advent verheißt, beginnt nicht erst am Ende der Tage. Er beginnt dort, wo wir heute schon anders miteinander umgehen. Er beginnt dort, wo wir den ersten Schritt machen, um Konflikte friedlich zu lösen, statt sie zu verschärfen. Er beginnt, wo wir von unseren Vorurteilen einen Schritt zurücktreten, um Verständnis für den:die Andere:n zu üben. Er beginnt, wo wir solidarisch mit unseren Mitmenschen handeln, wenn ihnen Unrecht widerfährt. So kann Gott in unserem Leben ankommen – und das schon „in künftigen Tagen“.
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SOPHIA HOSE (21)



