Bernd Müller (58) rührt als Leiter der Telefonseelsorge bei der Beratungsstelle „Ruf und Rat“ in vielen Kochtöpfen. Was seine Aufgaben sind und wie die Arbeit der ehren- amtlichen Telefonseelsorger*innen bei „Ruf und Rat“ aussieht, erzählt er im Interview.
Herr Müller, Sie sind als Psychologe in der Telefonseelsorge tätig. Wie sind Sie zu Ihrem Beruf gekommen?
Zunächst bin ich gelernter Werkzeugmacher. Über den zweiten Bildungsweg habe ich an der katholischen Fachhochschule in Freiburg Religionspädagogik studiert und dann in Tübingen Psychologie. Ich bin Gemeindereferent und Vater von drei Kindern. Als alle Kinder mit Studium oder Beruf versorgt waren, war für meine Frau und mich klar, dass es nach fast 20 Jahren an einem Ort etwas Neues braucht. Bei „Ruf und Rat“ wurde zu diesem Zeitpunkt die stellvertretende Leitung der Telefonseelsorge frei. Telefonseelsorge bedeutet für mich Dienst am Menschen, rund um die Uhr und 365 Tage im Jahr zuverlässig für die Menschen da zu sein. Ich musste nicht lange überlegen und habe mich beworben.
Bei der Telefonseelsorge von „Ruf und Rat“ sind sehr viele ehrenamtliche Mitarbeiter*innen tätig. Wie genau werden diese auf ihre Aufgabe vorbereitet und ausgebildet?
Zunächst gibt es ein Bewerbungs- und Auswahlverfahren. Das halte ich für enorm wichtig. Wir suchen Menschen, die kontaktfähig sind und genügend Herzblut für diese Aufgabe mitbringen. Gefragt sind Kommunikationsfähigkeit und Liebesfähigkeit – ein Engagement, das aus dem Herzen kommt und nicht nur aus dem Kopf. In der einjährigen Ausbildung investieren wir viel in die neuen Mitarbeiter*innen, deshalb sind wir natürlich daran interessiert, dass sich diese Menschen möglichst lange in der Telefonseelsorge engagieren. Und das funktioniert nur, wenn sie psychisch stabil genug sind für die Belastungen, die mit diesem Dienst einhergehen. Mit denjenigen, die dann von uns ausgewählt worden sind, starten wir die Ausbildung. Diese dauert rund 150 Stunden, was Standard bei der Telefonseelsorge ist. Und da passiert ganz viel im Sinne von Selbsterfahrung, Selbst- und Fremdwahrnehmung, aktivem Zuhören und Gesprächsführung. Später wird dann der Dienst am Telefon geübt, zunächst durch Hospitieren bei schon erfahreneren Mitarbeiter*innen, dann dürfen die Auszubildenden selbst ans Telefon, werden aber noch begleitet.
Was sind Ihre Aufgaben als Leiter des Bereiches Telefonseelsorge?
Ich kümmere mich darum, dass das Ganze funktioniert. Das beginnt bei der Technik und dem Dienstplan, beinhaltet Mitarbeitergespräche, Supervision und die Organisation von Fortbildungen.
Die Online-Seelsorge gehört ebenfalls zu meinen Aufgaben. Als Leiter sitze ich hin und wieder selbst am Telefon. Das ist notwendig, damit ich einen Einblick erhalte für die Nöte und Anliegen der Menschen, die bei uns anrufen. Manche melden sich in einer aktuellen Krise, andere rufen auch öfter bei uns an und suchen ein Ohr und eine menschliche Stimme in ihrer Einsamkeit oder konkrete Hilfe für ihre Tagesstruktur. Sehr wichtig ist mir die „Seelsorge für Telefonseelsorger*innen“, wie ich es nenne. In der Regel halte ich die Tür meines Büros offen. Wenn einer oder eine der Telefonseelsorger*innen einen schwierigen Anruf hatte, wenn da noch Reste geblieben sind, die nicht einfach abgelegt werden können, bin ich für unsere Mitarbeiter*innen da. Der Kontakt zu anderen Einrichtungen, zu den Krisennotfalldiensten in Stuttgart und zu den anderen Telefonseelsorgestellen der Region Südwest ist mir ebenfalls wichtig. Telefonseelsorge funktioniert nur dann, wenn wir Hauptamtlichen über unseren eigenen Bereich hinaus Aufgaben übernehmen. Ich würde sagen, ich rühre in ganz vielen Kochtöpfen. Und das macht mir riesig Spaß, weil es unglaublich abwechslungsreich ist und an ganz vielen Stellen um Wesentliches geht. Ich habe viel Schönes gemacht in meiner Lebenszeit, jetzt bin ich an einem Ort, an dem ich das Gefühl habe, etwas besonders Sinnvolles zu tun und zu leben.
Ihr Tätigkeitsfeld heißt Telefon-„Seelsorge“. Spielt der Glaube da eine wichtige Rolle?
Für mich ist Seelsorge zunächst eine Frage der Haltung: Lasse ich mich berühren? Interessiere ich mich für den ganzen Menschen, also auch für seine Seele? Vertraue ich darauf, dass ich selbst gehalten bin? Berater*innen müssen nicht unbedingt spirituell unterwegs sein – für Seelsorger*innen ist das wesen- tlich. Wenn ich am Telefon sitze und es abnehme, wenn es klingelt, dann sage ich: „Guten Morgen. Telefonseelsorge …“ und was dann kommt, ist das ganze Leben. Mit allen denkbaren Gedanken, Nöten, Sorgen und Schwierigkeiten.
Was für Menschen rufen bei Ihnen an?
Bei vielen Menschen, die bei uns anrufen, geht es nicht um Veränderung, sondern um Entlastung und um das Gefühl, nicht allein zu sein. Über die Weihnachtszeit hinweg gab es besonders viele Anrufe zu familiären Beziehungen und Krisen aller Art. Ein hoher Anteil unserer Anrufer*innen sind Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen. Auf Termine beim Therapeuten oder in der Psychiatrie muss man oft sehr lange warten. Dann ist Telefonseelsorge zum Überbrücken da, für die aktuelle Krise. Ich sage gerne, wir sind „sozialer Kitt“ für die Gesellschaft. Und weil wir vierundzwanzig Stunden erreichbar sind, rufen bei uns auch nachts Menschen an, wenn sie aufgrund von Ängsten oder Gedankenkreiseln nicht schlafen können. Spät nachts ist außer der Telefonseelsorge niemand anzutreffen. Das ist unser Alleinstellungsmerkmal.
Gibt es spezifische Zeiten, an denen besonders viele oder vielleicht auch besonders wenige Anrufe bei Ihnen eingehen?
Das Besondere ist, dass es im Grunde keine Besonderheiten gibt. Sie fragen mich, zu welchen Zeiten mehr oder weniger los ist? Mancher denkt, an Weihnachten müsste wohl ganz viel los sein, weil sich viele alleine fühlen, und dann gibt es gerade da längere Pausen zwischen den Gesprächen.
Bei Corona zu Beginn der Pandemie dachten wir, dass der Bedarf besonders groß sein müsste. Aber während der ersten Welle, als überall das Klopapier und die Hefe knapp wurden, gab es bei uns zunächst keine Welle an Anrufen. Die kam später, als die Menschen das Nötigste hatten und sich mit ihren emotionalen Bedürfnissen konfrontiert sahen. Aber ein Muster nach Wetter oder Jahreszeit gibt es eigentlich nicht.
Wie sieht denn ein typischer Ablauf eines Gesprächs am Telefon aus?
Es klingelt, ich gehe ran und melde mich mit „Telefonseelsorge“ und versuche dann gut in Kontakt zu kommen und herauszufinden, was das Anliegen des anonymen Anrufenden ist. Namen werden nicht genannt, emotionale Unterstützung ist wichtig, Ratschläge geben wir möglichst nicht. Wir nehmen an und begleiten, suchen zusammen nach möglichen Schritten. Nach dem Auflegen dokumentieren wir in wenigen Worten, was das Anliegen war und wie das Gespräch ablief. Das ist wichtig zum Loslassen, damit ich für den nächsten Anruf wieder frei und leer bin. Dann mache ich die Leitung wieder auf, und in der Regel kommt dann schon der nächste Anruf rein.
Wie gehen Sie denn mit besonders schweren Themen um, die Sie auch persönlich bewegen?
In der Regel verfolgen mich die Gespräche nicht. Aber auch wir in der Leitung haben Supervision oder Intervision mit den Kolleg*innen. Mir persönlich helfen frische Luft, Bewegung oder die Meditation: das, was da in mir ist, loszulassen, Gott hinzuhalten.
Gibt es – im Gegensatz dazu – auch Situationen, die Sie als bereichernd und positiv empfinden?
Wenn ich mit jemandem in Resonanz komme – egal ob das ein gemeinsames Lachen, ein Gefühl von Leichtigkeit oder auch von einer besonderen Schwere ist – fühle ich mich bereichert. Es ist ein Geschenk, Menschen so zu begegnen und teilzuhaben, an dem, was sie mitbringen. Manchmal staune ich darüber, was die Anrufenden oder Chattenden bewegt. Dass sich jemand im Vertrauen öffnet und zeigt, ist etwas Schönes und Großartiges.
Was würden Sie Menschen raten, die sich für ein Ehrenamt bei der Telefonseelsorge interessieren?
Erst einmal unter das Kopfkissen packen und eine Nacht darüber schlafen. Man muss es einmal sacken lassen. Fragen Sie sich, was Sie an dieser Aufgabe lockt? Ist es nur eine schnell aufflammende Idee? Möchten Sie sich wirklich mit einem hohen zeitlichen Aufwand für andere engagieren? Wenn die Motivation wirklich anhält, dann melden Sie sich einfach bei der örtlichen Telefonseelsorgestelle. Dort können Sie sich informieren und in den Auswahlprozess hineinbegeben.
TEXT: JUDITH SCHMEREK (21)