Wenn man Kinder fragt, was sie später einmal werden möchten, kommt meist eine schnelle Antwort als Reaktion. Doch diese frühe Gewissheit schwindet irgendwann – die Suche nach der eigenen Berufung beginnt. Wie kann man dabei unterstützen?

Im Rahmen meiner Tätigkeit bei der Diözesanstelle Berufe der Kirche spreche ich oft mit Menschen, die an einem Punkt angekommen sind, an dem sie fragen: „Und wie finde ich nun heraus, was mein Platz ist?“ Manche Menschen können von einem Berufungsereignis zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrem Leben erzählen, wo sie von einem Augenblick auf den anderen wussten, was für sie der richtige Weg, der richtige Platz ist. Bei vielen ist es aber eher ein längerer Prozess, der auch nie wirklich ganz abgeschlossen ist, sondern manchmal Korrekturen im Detail oder die Rücknahme früherer Entscheidungen erfordert, weil sie sich als für das eigene Leben nicht tragfähig erwiesen haben.

Was sie alle gemeinsam haben: Sie suchen nach ihrer Berufung. Was aber ist berufen sein? Das Wort Berufung taucht auch in einigen nichtreligiösen Kontexten auf, z. B. bei Richtern oder Professoren. Eine Gemeinsamkeit dabei ist, dass man sich nicht selbst berufen kann. Berufung ist immer ein Ruf von außen her. In den nichtreligiösen Kontexten wird jemand durch andere Menschen oder Gremien berufen. Im religiösen Kontext ist der, der beruft, immer Gott. Häufig denken wir dabei an Berufungen wie Weiheämter oder das Ordensleben, die mit einer bestimmten Lebensform einhergehen, oder an die Tätigkeit in einem pastoralen Dienst.

Doch beschränkt sich der Begriff der Berufung nicht darauf. Es gibt auch Berufungen, die nicht derart institutionalisiert sind. In diesem weiter gefassten Verständnis hat jeder Mensch eine Berufung von Gott her und die Lebensaufgabe schlechthin besteht darin, dieser Berufung auf die Spur zu kommen. John Henry Newman hat das einmal sehr schön ausgedrückt und ich bin der Überzeugung, dass dieser Satz für jeden Menschen gilt: „Ich bin berufen, etwas zu tun oder zu sein, wofür kein anderer berufen ist. Ich habe einen Platz in Gottes Plan, auf Gottes Erde, den kein anderer hat. Ob ich reich bin oder arm, verachtet oder geehrt bei den Menschen, Gott kennt mich und ruft mich bei meinem Namen.“

Innere Freude spüren

Wenn also nun jemand zum Gespräch zu mir kommt und die Frage mitbringt „Was sollte ich mit meinem Leben anfangen?“, dann gibt es verschiedene Asekte, die denjenigen bei der Suche nach einer Antwort weiterbringen können.

  • Freude: Jemand sagte vor einiger Zeit einmal, das, was andere Berufung nennen, sei für ihn einfach etwas, das er tut, weil es ihm Spaß mache. Doch Berufung macht nicht immer nur Spaß. Manch- mal kann es ganz schön schwer sein und es braucht dann die Erinnerung daran, warum man sich ursprünglich einmal dafür entschieden hat. Aber genau das ist der Punkt: Ich muss beim Ge- danken daran, mich auf diesen Weg zu begeben, eine innere Freude spüren, eine innere Weite, etwas, das mir das Herz aufgehen lässt. Wenn ich mich zähneknirschend und missmutig auf den Weg mache, habe ich nichts als Grundlage, auf das ich in schwierigen Zeiten zurückgreifen kann. Gott ist ein Gott des Lebens und wenn er mich auf einen Weg ruft, dann auf einen, auf dem ich wachsen, reifen und mich weiterentwickeln kann.
  • Können: Umgangssprachlich wird der Begriff „Berufung“ manchmal auch verwendet, wenn jemand auf einem Gebiet ein offensichtliches Talent mitbringt, etwas auffallend gut kann. Auch das macht nicht die ganze Berufung aus und ist dennoch ein wichtiger Aspekt. Wenn ich Profibergsteiger werden möchte, aber unüberwindbare Höhenangst habe, dann passt das vielleicht nicht so gut zusammen. Ebenso ist es, wenn jemand in den pastoralen Dienst gehen möchte, aber nicht gerne mit anderen Menschen zusammen ist. Die Frage: „Kann ich das, was ich will?“, sollte man sich selbst möglichst ehrlich beantworten und vielleicht auch Vertrauenspersonen, die einen gut kennen, nach ihrer Meinung fragen.
  • Wirkung: Wenn ich meine Berufung wirklich lebe, dann wirkt das auf andere Menschen ansteckend. Ich staune immer wieder, wenn ich mitbekomme, wie begeistert unsere Theologie- oder Religionspädagogikstudierenden sind, und dadurch Altersgenossen auf die Idee bringen, dass das auch etwas für sie sein könnte. Dabei machen sie nicht einmal explizit Werbung. Sie leben einfach das, was sie zu diesem Zeitpunkt als ihre Berufung erkannt haben. Berufung trägt Früchte und bleibt nicht ohne Wirkung, wie es im Johannes-Evangelium heißt: „Ich habe euch erwählt und dazu bestimmt, dass ihr euch aufmacht und Frucht bringt“ (Joh 15, 16b).
  • Objektivität: Was auch eine große Sicherheit geben kann ist, wenn ich weiß: Nicht nur ich denke, dass das meine Berufung sein könnte, sondern andere sehen es auch in mir. Bei Berufungen, die eine Entscheidung für einen kirchlichen Beruf oder für eine bestimmte Lebensform implizieren, müssen immer andere Menschen die Berufung bestätigen, sei es der Bischof, der jemanden zum pastoralen Dienst beauftragt oder eine Ordensleitung, die jemanden zu den Gelübden zulässt. Das bedeutet für diese natürlich eine große Verantwortung, einerseits dem einzelnen Menschen und seinem Weg mit Gott gerecht zu werden und andererseits zu verhindern, dass jemand, für den es tatsächlich nicht das Richtige wäre, sich in etwas verrennt, das ihn und die Menschen, mit denen derjenige zu tun hat, nicht glücklich macht.
  • Herausforderung: Es wäre ein Missverständnis zu denken, dass alles immer leicht sein und glattgehen muss, wenn ich zu etwas berufen bin. Misserfolge und Zeiten, wo es eben nicht „läuft“, gehören dazu, weil sie uns herausfordern, uns weiterzuentwickeln, die Dinge anders anzugehen. Viele große Heilige kannten solche Phasen in ihrem Leben. Wie sie damit umgingen, lehrt auch uns: Erstens nicht aufgeben, sondern sich daran festhalten, dass Gott den Weg mitgeht, und zweitens aus den Situationen, die schwierig waren, lernen. Schwierige Zeiten auf einem Berufungsweg fordern uns dazu heraus, etwas zu ändern. Aber bevor wir das ändern, was wir tun, ist es besser, zuerst einmal zu ändern, wie wir das tun, was wir tun.

Nie fertig

Bei all dem sind wir mit der Frage nach unserer Berufung nie fertig. Natürlich sind die großen Lebensentscheidungen irgendwann getroffen, manchmal auch revidiert, aber wenn die Frage nach der eigenen Berufung gleichbedeutend ist mit der Frage nach Gottes Willen in meinem Leben, dann muss ich jeden Tag die Frage stellen: „Und was willst du, Gott, heute von mir?“ Dazu fallen mir zwei Aussagen des heiligen Vinzenz von Paul ein:

  1. „Alles gut tun, was man nach seinem Beruf zu tun verpflichtet ist – das ist die wahre und gründliche Heiligkeit.“ Das beinhaltet, dass andere Menschen sich darauf verlassen, dass man seine eigenen Auf- gaben zum Wohl der anderen ausübt und es allen zugutekommt, wenn man das möglichst gewissenhaft tut.
  2. „Die Ereignisse sind unsere Herren.“ Dadurch kommt zum Ausdruck, dass sich oft in den unvor- hergesehenen Dingen des Alltags, die unseren eigenen Plänen zuwiderlaufen, der Wille Gottes zeigt, weil wir dazu herausgefordert werden, nicht uns selbst an die erste Stelle zu setzen, sondern zu tun, was die Situation erfordert.

Diese beiden Gedanken können für uns alle, unabhängig von unserer beruflichen Tätigkeit, ein Impuls sein, unserer eigenen Berufung jeden Tag neu auf die Spur zu kommen und zu folgen.

 

Sr. Luise Ziegler

Text: Schwester Luise Ziegler

 

Zur Person

Schwester Luise Ziegler ist Vinzentinerin, Gemeindereferentin, Referentin bei der Diözesanstelle Berufe der Kirche und geistliche Begleiterin am Ambrosianum Tübingen