Zwischen Berufung und Zerreissprobe

Wer sich heute für einen kirchlichen Beruf entscheidet, beweist eine gute Portion Mut. Die Anforderungen werden immer größer. Was tun, wenn Kraft und Freude im fordernden Alltag verschwinden?

von Annette Gawaz

Manchmal werde Theologinnen wie ich neugierig gefragt: Sag mal, wie ist es möglich, heute noch als Frau in der Kirche zu arbeiten?

Andere urteilen kritisch: Ich kann nicht verstehen, wie man überhaupt noch einen kirchlichen Beruf wählen kann. Die Frage nach der kirchlichen Verbundenheit stellt sich dabei natürlich nicht nur hauptberuflich Tätigen, aber ihnen stellt sie sich in besonderer Weise. Ich bin Pastoralreferentin und – zusammen mit vier weiteren Kollegen – als Seelsorgerin für alle Priester und pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unserer Diözese tätig. Dies ist ein Angebot, bei dem sie sich Unterstützung, geistliche Begleitung, seelsorgliche Beratung und Stärkung in beruflichen oder auch persönlichen Klärungssituationen holen können. Oft sind es Entscheidungs- oder Umbruchsituationen, die den Anlass zu einem Gespräch geben. Immer wieder geht es um Krisen und Belastungen bis hin zur Grenze am Burnout – gerade auch angesichts steigender Anforderungen und groß gewordener Seelsorgeräume. Es geht um Fragen wie die nach der eigenen Rolle, nach Quellen für Motivation und Durchhaltekraft – letztendlich um die Frage nach der eigenen Identität als kirchliche/r Mitarbeiter/in, also nach der persönlichen Berufung.

Mitgehen, wenn der Lebensfluss versickert

Vor einigen Jahren begegnete mir ein kurzes Gedicht von Christine Busta, das mich in der Einfachheit sei- nes Bildes und der Sparsamkeit seiner Worte sehr an- gesprochen hat. Die Dichterin beschreibt darin, wie einer, der ums Leben weiß und eine Ahnung davon hat, „was alles mit dem Leben geschehen kann“, wie dieser es als lohnenswert ansieht, „auch den verschwundenen Flüssen“ nachzugehen, die im Karst versickert sind.¹

In diesem Bild finde ich mein Selbstverständnis als Seelsorgerin wieder: Räume aufzumachen, in denen Männer und Frauen der verschiedenen Seelsorgeberufe wieder neu mit dem erfrischenden Fluss des Lebens in Berührung kommen können, in denen sie an Leib und Seele neue Kraft schöpfen und sich auch gegenseitig den Rücken stärken können.

Was tun, wenn Lebendigkeit und Vitalität, Kraft und Freude unter der Kruste eines belastenden Alltags scheinbar verschwunden sind oder unter den Verhärtungen alten Narbengewebes, die jemand sich durch manchen Lebens- oder Kirchenschmerz zugezogen hat, schlummern?

Die Einladung des Gedichtes heißt: den verschwundenen Flüssen nachgehen. Und für mich als Seelsorgerin, als Wegbegleiterin bedeutet das: mitgehen. Neben einem Menschen hergehen, nicht mit einer Wünschelrute in der Hand, aber mit hörenden Ohren, wachem Blick, mit aufmerksamem und hoffendem Herzen. Nicht, weil ich mehr höre. Nicht, weil ich mehr sehe. Und am allerwenigsten, weil ich mehr weiß. Sondern indem ich meine Ohren, meinen Blick dazulege und wieder neu zu sehen und zu hören und manchmal auch neu zu hoffen helfe.

Hoffen helfen – aus dem Vertrauen heraus, dass scheinbar Verschwundenes dennoch da ist. Auch wenn nur ein fernes Gluckern zu hören ist. Dass der Lebensstrom gespeist wird vom tiefsten Quellgrund des Lebens. Und dass es in jedem Menschen ursprüngliche Eigenkräfte gibt, die zum Leben hinstreben.

Wer in eine Krisensituation gerät, macht meist die zermürbende Erfahrung, wie vieles, was vorher so selbstverständlich getragen hat, auf einmal oder ganz allmählich zerrinnt. Energie und Lebenskraft, Freude und Sinnhaftigkeit sind nicht mehr einfach zugänglich. Sind wie verdunstet. Wie versickert. Die Kräfte sind unter Grund gegangen. Manchmal schleichend. Und der Zugang zur Kraft der eigenen Berufung ist wie verschüttet. Die Quelle von Freude, Vitalität und Leidenschaft wie von einem Felsen verschlossen (vgl. Exodus 17).

Zur Quelle zurückgehen

Ich finde folgendes Bild hilfreich: Wenn wir auf einer Wanderung einem Bach- oder Flusslauf folgen, dann führt uns der Weg möglicherweise zurück zum Quellgrund, zum Ursprung des Wassers. Sinnbildlich kann das Zur-Quelle-zurück-Gehen bedeuten: nach den persönlichen Ressourcen schürfen.

Was wir Menschen als Quellen, als Ressourcen zur Verfügung haben, kann viele verschiedene Namen haben: Es sind die Menschen, mit denen ich Vertrauen und Intimität lebe oder Weggefährt/innen wichtiger Lebensabschnitte; es sind die materiellen Rahmenbedingungen meines Lebens; meine Gesundheit; meine Fähigkeiten; meine Charismen; es ist meine Spiritualität als Quelle der Kraft. Entziehen sich viele dieser Ressourcen meiner Zugänglichkeit, dann ist es schwierig, in einer gesunden Lebensbalance zu bleiben. Dabei steht an allererster Stelle der Blick auf die leibliche Befindlichkeit. Wenn unsere Spiritualität nicht hiermit verknüpft ist, gerät sie schnell in Gefahr, in einen abstrakten Raum hinein zu verdunsten. Die folgenden Fragen können in ihrer Einfachheit sehr hilf- reich sein. Sie beziehen sich auf die fünf Prioritäten, die der Jesuit Franz Jalics im Zusammenhang seiner kontemplativen Exerzitien empfiehlt:

  1. Habe ich ausreichend Schlaf?
  2. Wie ist es mit der Bewegung und mit der Ernährung?
  3. Und danach: Wie ist die innere geistliche Ausrichtung?
  4. Wie viel Zeit schenke ich den Menschen, mit denen ich lebe?
  5. Und schließlich: Wie steht es um das Feld der Arbeit?²

Zurück zur Quelle zu gehen, hat also ganz viel mit den Ressourcen des Lebens zu tun. Und darüber hinaus mit der Frage, mit der der Gottesbote der verzweifelten, resignierenden Hagar in der Wüste begegnet: „Woher kommst du?“ (Gen 16). Das heißt: Meine Ge- schichte anschauen. Prägende Lebenserfahrungen er- innern und wieder lebendig werden lassen. Nach der „ersten Liebe“ fragen, die mich auf den Weg gebracht hat. Und auch die Frage zu stellen, von woher mein Auftrag kommt, für den ich mich als Seelsorger/in zur Verfügung stellen möchte.

Die Mündung suchen

Wenn wir an einem Wasserweg entlangwandern, kann es sein, dass wir in Richtung seiner Mündung unterwegs sind. Wer nach der Mündung fragt, stellt die Frage nach dem „Wohin“. Im gleichen Atemzug, in dem der Gottesbote Hagar nach ihrem „Woher“ fragt, stellt er ihr die Frage: „Und wohin bist du unterwegs?“ Wohin zieht das Leben? Wo nehme ich wahr, dass Leben sich entfalten will – oder, um im Bild zu bleiben, wohin der Lebensfluss fließen möchte? In diese Richtung zu blicken, in diese Richtung weiterzugehen, lohnt sich. Berufung hat sehr viel mit meinem „Woher“ zu tun. Aber sie möchte sich entfalten in einem „Dorthin“, in einem „Mehr“ an Leben – für mich selbst im Sinne einer guten Selbstverantwortung und für die Menschen, für die ich einen Auftrag habe.

Für mich gehört es zu den beglückendsten Erfahrungen in meinem Beruf, wenn Menschen wieder mit beiden Füßen hineinsteigen in den Fluss ihres Lebens, wieder hinfinden zur Lebenskraft ihrer Berufung und Orte aufspüren, diese zu leben. Dann merke ich, wie es sich lohnt, den „verschwundenen Flüssen“ geduldig, beharrlich und liebevoll nachzugehen.

¹ Christine Busta, für Alfred Focke SJ, ihrem geistlichen Begleiter, nach Mitterstieler, Elmar, 2012
² Nach Jalics, Franz, Kontemplative Exerzitien, 2013

 

Annette Gawaz

ZUR PERSON

Annette Gawaz arbeitet seit 1. September 2017 als Seelsorgerin für Priester und pastorale Mitarbeiter in Rottenburg. Sie hat langjährige Erfahrungen als Seelsorgerin in den verschiedensten Bereichen der Gemeindepastoral (verschiedene Seelsorgeeinheiten) und eine Zusatzausbildung zur Gestaltpädagogin und Gestaltberaterin (IGBW) absolviert.