Auf Tuchfühlung mit Jesus
Woran erkennt man einen Heiligen? Wie kann man Paulus von Petrus unterscheiden oder Barbara von Katharina von Alexandrien? Ohne Schlüssel, Schwert, Turm und zerbrochenes Rad wird es schwierig, die Heiligenfigur hinten rechts neben dem Beichtstuhl zu identifizieren; wir brauchen die Heiligenattribute als Erkennungszeichen. Sie helfen uns zu sehen, wen wir da vor uns haben, fast so, wie wir auch ganz alltäglich unser erstes Bild von einer Person darüber zeichnen, wie sie sich uns vor Augen stellt – auch wenn der äußere Schein allzu oft trügt. So hat also jeder und jede Heilige ein eigenes, mal mehr, mal weniger bekanntes Attribut. Manchmal läuft der ganze Prozess aber auch andersrum: Manchmal bekommen nicht die Heiligen ein Attribut verliehen, sondern das Attribut braucht einen Heiligen, eine Legende, die hinter ihm steckt.
Im Schweiße seines Angesichts
Eine solche fast schon unselbstständige Heilige ist Veronika, oder Berenike, wie sie der Legende nach geheißen haben soll. Es gibt nahezu keine Darstellung, auf der Veronika nicht das in Händen hält, was sie berühmt gemacht hat: das Schweißtuch mit dem Antlitz Christi. Von diesem Schweißtuch soll es inzwischen über ein Dutzend Exemplare geben, ganz so, wie sich Christus-Reliquien gerne über jedes übliche Maß hinaus vervielfältigen. Das eine Schweißtuch, von dem eine Schrift aus dem 6. Jahrhundert erzählt, soll Veronika (die oft mit der blutflüssigen Frau identifiziert wird, die von Jesus geheilt wurde) Jesus hingehalten haben, um ihn um ein Bild seines Gesichtes zu bitten, ein Erinnerungszeichen für sie. Danach habe sie es nach Rom geschickt, wo es Kaiser Tiberius – je nach Version – von Aussatz oder einem Wespennest in seinem Kopf geheilt habe. Erst das Mittelalter stellt jene Veronika an den Kreuzweg Jesu und macht sie von einem „Jesus-Fangirl“ zu einer mitleidenden Frau, die einem Todgeweihten noch einmal ein wenig Erholung verschafft.
Gelebte Barmherzigkeit
Und da steht sie nun heute, an der sechsten Station des Kreuzwegs Jesu. Sie hebt sich ab von den weinenden Frauen, die Jesus kurz danach trifft. Auch sie wird wohl getrauert haben, doch sie bleibt bei ihrer Trauer und ihrem Mitleid nicht stehen. Veronika übt praktische Barmherzigkeit, indem sie im Rahmen ihrer begrenzten Möglichkeiten da hilft, wo Hilfe gebraucht wird. Sie kommt Jesus in einem körperlichen und in einem geistigen Sinne nah, geht auf Tuchfühlung mit ihm, riskiert wahrscheinlich sogar Schläge oder zumindest Drohungen von Soldaten. Doch sie lässt sich nicht entmutigen, sondern lebt genau das, was Jesus verkündet hat: Zuwendung zu denen, die es brauchen. Vielleicht ist also letztlich das Schweißtuch der Veronika, so sehr es auch heute verehrt wird, gar nicht viel mehr als ein Attribut einer Heiligen, die zeigt, was es heißt, Barmherzigkeit und Nächstenliebe zu leben – ein echtes Vorbild eben.
TEXT: GABRIEL HÄUSSLER (24)