„Man kennt sich im Dorf“

Ob beim Spaziergang am nahe gelegenen Härtsfeldsee, beim Einkauf in den örtlichen Geschäften oder wenn ich in einem der elf Dörfer der Seelsorgeeinheit unterwegs bin, überall treffe ich auf Menschen. Man kennt sich im Dorf. Bei vielen weiß ich einiges von ihrem Hintergrund: von ihrem Beruf, von ihrem Engagement in einem Verein, von familiären Freuden und Sorgen. Schnell findet sich ein Anknüpfungspunkt für ein Gespräch. Manchmal ergibt es sich, dass so ein Gespräch auch etwas mehr in die Tiefe geht.

Nach meiner Ausbildungszeit in zwei städtischen Seelsorgeeinheiten habe ich mich bewusst für eine Pfarrstelle auf dem Land entschieden. Eingebunden in ein Pastoralteam teile ich Leben und Glauben mit den Menschen in der Seelsorgeeinheit Härtsfeld. Die elf Dorfgemeinden sind sehr unterschiedlich in ihrer Größe und in ihren gemeindlichen Aktivitäten. Ich empfinde diese Vielfalt als einen großen Reichtum und bemühe mich, das jeweilige Engagement der Menschen zu unterstützen und wohlwollend, manchmal auch kritisch, zu begleiten. Viele Ideen kommen nicht aus dem Pastoralteam, sondern wachsen in den einzelnen Gemeinden. Wir als Pastoralteam unterstützen und bestärken die Menschen vor Ort, auf ihre je eigene Weise Glauben zu leben und Gemeinde zu sein.
Ich sehe meine Aufgabe auch darin, die verschiedenen Akteure zu vernetzen, damit aus den vielen einzelnen Engagements ein großes Ganzes im Herrn werden kann, eben eine Dorfgemeinde. Dieses Zusammenführen wird in der gegenwärtigen Zeit schwieriger. War früher der Sonntagsgottesdienst noch der Ort, wo Menschen aller Gruppen und jeden Alters zusammenkamen, kann er diese Aufgabe heute längst nicht mehr erfüllen. In kleinen Gemeinden wird sich bald die Frage stellen, ob man in so kleiner Gemeinschaft noch regelmäßig Gottesdienst feiern kann – es sind dann einfach zu wenige. Ohne diese Mitte wird es jedoch schwierig sein, die Gemeinde zusammenzuhalten. Es wird eine Herausforderung sein, hier neue Wege zu finden.

ZUR PERSON
Bernd Hensinger (48) aus Dischingen ist seit 2007 Gemeindepfarrer in der Seelsorgeeinheit Härtsfeld. Als Vikar begann er seine Arbeit in Schwäbisch Gmünd, danach war er in Reutlingen. Vor seiner jetzigen Stelle arbeitete Bernd Hensinger als Pfarrvikar in Nagold.

 

„Herr Stadtpfarrer“

Was macht einen Stadtpfarrer zum Stadtpfarrer? Wenn ich selbst an meine Kindheit zurückdenke, erinnere ich mich an den Pfarrer meiner Heimatgemeinde, den man immer mit großer Ehrfurcht mit dem Titel „Herr Stadtpfarrer“ angesprochen hat. Ein älterer Mitbruder sagte mir neulich: „Hinter dem Titel Stadtpfarrer steckte vielfach ein Dünkel gegenüber der Landbevölkerung: Wir sind Stadtbewohner und haben nicht nur einen Pfarrer, sondern einen Stadtpfarrer.“ Das ist Gott sei Dank heute nicht mehr so. Seit ich Pfarrer in Ulm, bin hat mich noch niemand mit „Herr Stadtpfarrer“ angesprochen. Was zeichnet heute einen Pfarrer in der Stadt aus?

Bei dieser Frage kommt mir die Berufungsgeschichte des Apostels Paulus in den Sinn. Jesus erscheint dem Saulus und ruft ihn beim Namen. Das haut ihn regelrecht zu Boden. Die erste Anweisung, die Saulus daraufhin erhält, lautet: „Steh auf und geh in die Stadt; dort wird dir gesagt werden, was du tun sollst!“ (Apg 9,6). In der Stadt erkennt Paulus seine Berufung und erfährt, was er tun soll. Er wird ein Sehender. Je größer die Widerstände werden, umso kraftvoller beginnt er, Jesus zu verkünden. Auch ich sehe die Verkündigung des Wort Gottes als Mitte meines Auftrags, gerade in einer Stadt mit einem evangelischen Münster, in der die Ökumene eine bedeutende Rolle spielt.
„Geh in die Stadt, dort wird dir gesagt werden, was du tun sollst!“ Diesem Auftrag begegne ich in den verschiedensten Lebenswelten unserer Stadt, im Konventionellen und Alltäglichen genauso wie im Außergewöhnlichen und Unkonventionellen. Viele Menschen, die nicht zur Gemeinde gehören, suchen nach neuen Begegnungsräumen. Grenzen verschwimmen zusehends. Neue Netzwerke entstehen. Diese Entwicklung, so scheint mir, wird durch die Coronakrise noch beschleunigt.

So erlebe ich die Stadt als Quelle, die mich inspiriert, und als einen Ort, an dem ich den Auftrag der Kirche immer wieder neu erkenne und mir gesagt wird, was ich tun soll. Ich wünschte, ich hätte neben allen Verwaltungsaufgaben noch viel mehr Zeit dafür.

ZUR PERSON
Dr. Michael Estler (50) kommt aus Ulm und ist seit fast acht Jahren Pfarrer von St. Georg und St. Michael zu den Wengen. Davor war er als Repetent am Wilhelmsstift in Tübingen in der Priesterausbildung tätig und hat gleichzeitig an der Theologischen Fakultät der Universität Tübingen im Fach Neues Testament promoviert.