Immer mehr Menschen aus anderen Ländern finden eine Heimat in muttersprachlichen Gemeinden – auch in der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Doch was zeichnet das Leben innerhalb dieser Gemeinden aus? Wie gelingt es, auch an einem fremden Ort das Gefühl von Verbundenheit und Heimat aufzubauen? Und welche Rolle spielt dabei der Glaube? Diesen Fragen haben sich vier Mitglieder aus unterschiedlichen muttersprachlichen Gemeinden der Diözese gestellt und ihre je ganz eigenen Antworten darauf gefunden.
Philippinische Muttersprachliche Gemeinschaft Stuttgart
Charyl May Silacan-Baba (43) lebt seit ihrer Geburt als Philippinerin zweiter Generation in Stuttgart und besucht dort seit 2010 die Philippinisch Muttersprachliche Gemeinde (PMG) und ihre zugehörigen Gebetsgruppen. Dort übernimmt sie Aufgaben der Administration sowie auf Social Media.
Liebe Frau Silican-Baba, die Philippinisch Muttersprachliche Gemeinschaft ist eine sehr lebendige Gemeinde mitten im Herzen von Stuttgart. Was glauben Sie, macht Ihre Gemeinde so aktiv und lebendig?
Filipinos leben von Emotionen und einem starken Familiensinn. Daher ist es für viele ein Highlight, wenn die philippinische Messe besucht wird. Für viele ist es wie ein Familientreffen, wenn man sich dort trifft.
Haben Sie das Gefühl, die Menschen Ihrer Gemeinde empfinden die PMG als eine Art Konkurrenzangebot zur deutschsprachigen Gemeinde? Gibt es viele Berührungspunkte mit den anderen Gemeinden im Stuttgarter Zentrum?
Nein, das glaube ich nicht. Eher eine Bereicherung. Natürlich ist es immer schön, die Muttersprache zuhören. Da glaubt man einfacher. Aber ich denke, wenn es gemeinsame Messen gibt, dann kann jeder voneinander lernen und den Glauben gemeinsam ausleben.
Für viele Christinnen und Christen, die von den Philippinen nach Stuttgart kommen, ist Ihre Gemeinschaft die erste Anlaufstelle. Erfahren Sie den gemeinsamen Glauben oft als eine tragende Stütze für Menschen, die sich auf einen neuen Ort oder gar ein ganz neues Land einlassen müssen?
Ja auf jeden Fall. Wir sagen immer: Die meisten Filipinos findest du immer in der Kirche. Und es ist auch so. Kontakte werden geknüpft und aus diesen werden Freundschaften, zweite Familien oder auch Arbeitskollegen. Die Vielfalt, den Glauben auszuleben, ist da.
Polnisch-Katholische Mission Stuttgart
Michelle Kawaletz (23) besucht seit ihrer Geburt die polnische Gemeinde in Stuttgart und ist langjährige Ministrantin, Lektorin und Kantorin. Zudem engagiert sie sich im Pastoralrat der Gemeinde sowie im Diözesanrat als Repräsentantin der Gemeinden anderer Muttersprachen.
Liebe Frau Kawaletz, Ihre polnische Gemeinde ist die größte muttersprachliche Gemeinde in Stuttgart. Wie erleben Sie das Gemeinschaftsgefühl in einer so großen Gemeinde?
Unsere Gemeinde ist sehr vielfältig:Wir organisieren Feste, Treffen und Veranstaltungen für Jung und Alt. Somit erleben wir oft ein Zusammenkommen von Menschen: Personen, die lange in Deutschland sind, und anderen, die vielleicht nur temporär oder frisch angereist sind. Man unterstützt sich und „lebt“ innerhalb dieser Gemeinschaft. Ich habe innerhalb dieser Gemeinschaft Freunde, Vertrauenspersonen und eine Art zweite Familie gewonnen, die auch außerhalb der Kirche für mich da ist.
Neben der polnischen gibt es noch viele andere muttersprachliche Gemeinden in der Diözese. Was glauben Sie, macht diese Gemeinden auch für Gläubige, die bereits länger in Deutschland leben, so anziehend?
Für uns ist die Erhaltung von Tradition und Kultur ein sehr wichtiger Aspekt, dadurch können wir den Kontakt zu der Heimat, zu den Wurzeln und dem Land unserer Familien pflegen und viele Traditionen von dort auch hier ausleben. Meistens versuchen wir die Traditionen so fortzuführen, wie wir es aus Polen kennen, um so den Menschen unsere Bräuche zu zeigen, aber auch um den Menschen, die z. B. an Feiertagen nicht verreisen können, ein Stück Heimat mitzugeben. Ich denke, man könnte hier eine Vielzahl an Beispielen nennen …
Der in Ihrer Gemeinde sehr beliebte Papst Johannes Paul II. hat einmal humorvoll gesagt: „Ein Pole als Papst und ein Dogmatiker (Joseph Ratzinger) aus Deutschland, darauf kann die Kirche bauen.“ Was können Ihrer Meinung nach die deutschen und die polnischen Gemeinden am meisten voneinander lernen, um sich gegenseitig zu bereichern?
Man kann immer voneinander lernen, indem man sich gegenseitig schätzt und ein offenes Ohr füreinander hat. Meiner Meinung nach zeigen die Polen einen sehr innigen, tiefen Glauben, der stark an die Heiligen und vor allem an die Mutter Gottes gebunden ist. Unter anderem sind Gebete der Barmherzigkeit hierzulande noch recht unbekannt.
Italienische Kirchengemeinde Sacro Cuore di Gesù Rottweil
Chiara Fascia (19) ist in Deutschland geboren und besucht seit ihrer Geburt in regelmäßigen Abständen sowohl die italienische als auch die deutsche Gemeinde in Rottweil. Zurzeit befindet sie sich im 3. Ausbildungsjahr in einer Zahnarztpraxis und kandidiert im kommenden Jahr als Pastoralrätin.
Liebe Frau Fascia, wie erleben Sie das Zusammenleben der deutschen und italienischen Gemeinde bei Ihnen vor Ort?
Bei uns in Rottweil haben wir ein gutes Miteinander. Wir haben verschiedene Veranstaltungen, die wir zusammen organisieren, wie zum Beispiel den Heiligabend, die Osternacht und die Italienerfasnet.
Gibt es konkrete Dinge, die Sie in einer deutschen Gemeinde vermissen oder die eine muttersprachliche Gemeinde von einer deutschen Gemeinde lernen könnte?
Ja, die Unbeschwertheit. Das Bürokratische und die vielen Sitzungen erschweren manchmal den menschlichen Kontakt. Die italienische Gemeinde könnte jedoch die Pünktlichkeit und das bessere Zuhören von der deutschen Gemeinde lernen.
Glauben Sie, dass ein Heimatgefühl in der eigenen Gemeinde auch dazu beiträgt, sich in einem anderen Land besser beheimatet zu fühlen?
In Italien finden zu den Hochfesten viele Prozessionen statt. Beispielsweise findet an Karfreitag eine große Prozession statt, bei der man durch das ganze Dorf oder die Stadt läuft. Heimatgefühl entsteht durch den Kontakt zu den Gemeindemitgliedern untereinander, durch die ganze Liturgie in der Kirche und natürlich durch die italienische Sprache.
Kroatische Katholische Gemeinde Blaženi Ivan Merz Nürtingen
Ana-Julia Blazevic (24) ist seit ihrem fünften Lebensjahr Mitglied in der kroatischen Gemeinde Blaženi Ivan Merz in Nürtingen und engagiert sich im dortigen Jugendchor sowie in der Erstkommunionkatechese.
Liebe Frau Blazevic, in ihrer Gemeinde gibt es die vielfältigsten Angebote: Andachten, Gottesdienste, Katechesen etc. Sind es vor allem diese vielfältigen Angebote, die ihre Gemeinde für kroatischsprachige Christinnen und Christen so interessant machen?
Ich glaube durchaus, dass diese Angebote ein Grund dafür sind, dass viele in unsere muttersprachliche Gemeinde kommen. Vor allem ist die Gemeinde aber ein Ort, an dem Menschen mit gleichen kulturellen Hintergründen zusammenkommen. Es sind also vor allem die Menschen an sich und die Tatsache, dass das Angebot auf Kroatisch angeboten wird, die die Menschen in die Gemeinde bringen und halten. Die Gemeinde ist ein Ort der Begegnung und oft erste Anlaufstelle für Menschen, die neu nach Deutschland kommen.
Erleben Sie persönlich einen Unterschied, wenn Sie mit Gläubigen aus Ihrer Gemeinde über Ihren Glauben sprechen? Haben Sie das Gefühl, eine gemeinsame Herkunft und Sprache macht es leichter, über den eigenen Glauben ins Gespräch zu kommen?
Dadurch, dass bei vielen Kroatinnen und Kroaten der Glaube ein Teil der Kultur und dadurch etwas Soziales, Gemeinschaftliches ist, fällt es mir durchaus leicht, mit anderen ins Gespräch zu kommen. Man hat nicht das Gefühl, als sei es etwas rein Privates. Ich weiß aber auch, dass es für viele Menschen, die neu nach Deutschland kommen, hilfreich ist, wenn sie ihren Glauben ohne sprachliche Barrieren ausleben können, d. h., auch darüber sprechen können – sei es untereinander oder bei der Vorbereitung zum Empfang der Sakramente …
Was glauben Sie, könnten die deutschsprachigen Gemeinden von Christinnen und Christen aus anderen Ländern, besonders aus Kroatien, lernen?
Hier gibt es natürlich keine Pauschalantwort. Aber ich würde sagen, dass wir Kroatinnen und Kroaten noch mehr an Traditionen, die durch den Glauben entstanden sind, festhalten und diese pflegen. Dadurch bleibt der Glaube auch im Alltag präsent. Am meisten können wir aber voneinander lernen, indem wir im Austausch bleiben und die verschiedenen Arten und Weisen den Glauben bzw. Kirche zu leben, tolerieren.
TEXT: DOMINIK KUNEK (25)