Die Pastoralreferentinnen Katharina Leser und Maria Strigel de Gutiérrez, Pfarrer Werner Laub und die Pastoralassistentin Felicitas Schaaf wollen es sich nicht im Pfarrhaus gemütlich machen – sondern rausgehen zu den Menschen in der Stadt. Das Projekt „Aufbrechen“ hilft ihnen bei der Umsetzung ihrer Vorhaben – ein Ortsbesuch.

„Macht die Fenster der Kirche weit auf!“

Das soll Papst Johannes XXIII. bei seinem Amtsantritt im Jahr 1958 gesagt haben. Einige Monate später kündigte er die Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils an. Wer knapp sechzig Jahre später die Fenster im ersten Stock des Pfarrhauses in der Elisabethenstraße 32 in Stuttgart-West öffnet, blickt zunächst einmal auf die Kirche St. Elisabeth. Und da an diesem Morgen ein Gottesdienst gefeiert wird, fällt der Blick auch auf Pfarrer Werner Laub – weil nicht nur die Vorhänge des Fensters im Pfarrhaus beiseite gezogen wurden, sondern auch die Türen des Kirchenhauses weit offenstehen und so der Blick aus dem Fenster des Pfarrhauses bis in den Altarraum von St. Elisabeth fallen kann.

Einer, der im Stuttgarter Westen viele Türen geöffnet hat, ist Monsignore Christian Hermes. Inzwischen macht er das als Stadtdekan in der Landeshauptstadt, noch vor einigen Jahren war er Pfarrer in St. Elisabeth. Maria Strigel de Gutiérrez beschreibt ihn als einen motivierenden Menschen, der begeistern könne. Davon sei heute in der Gemeinde noch einiges zu spüren. Hermes wisse, wie Themen anzupacken seien, ergänzt Werner Laub mit Blick auf das Projekt „Aufbrechen“: „Es ist eine riesige Chance. Wir haben einen strukturierten Prozess und vor Ort setzen wir die Veränderungen um.“ Und wie sieht das konkret aus? „Der erste Schritt ist“, erklärt der Pfarrer, „dass wir alles kritisch anschauen müssen. Wir machen nichts mehr einfach nur, weil wir es immer schon gemacht haben. Das geht nicht mehr.“

„Unsere Botschaft muss wieder relevant werden“

Das bedeutet auch, sich zu verabschieden. Von gewohnten Strukturen, auch von liebgewonnenen Abläufen. Doch die Notwendigkeit dazu wurde erkannt, erklärt Katharina Leser: „Es gibt viele Kirchenaustritte. Das schmerzt. Unsere Botschaft muss wieder relevant werden, sonst können wir uns irgendwann zu dritt oder viert in den Gemeinden treffen.“ Mit dieser Zukunftsperspektive wollen sie sich in Stuttgart nicht arrangieren, dagegen kämpfen sie an. Und die ersten Erfolge sind schon sichtbar. „Ich höre oft: Endlich passiert mal was!“, sagt Pastoralassistentin Felicitas Schaaf. Das motiviert das Pastoralteam, auf dem neu eingeschlagenen Weg weiterzugehen.

Es wirkt so, als seien sie mutiger geworden im Stuttgarter Westen. Sie probieren aus und entwickeln Ideen, wie Kirche heute aussehen kann. Und vor allem: Sie öffnen Türen, veranstalten Gottesdienste auf dem Bismarckplatz direkt vor St. Elisabeth, zwischen den Bars und Restaurants.

„Wir sind Kirche in der Stadt und für die Stadt“

„Wir sind Kirche in der Stadt und für die Stadt“, sagt Werner Laub. Dieser Satz ist ihm wichtig geworden, er betont das einige Male. Der Satz ist wie ein Mantra, das sagt: Wir können hier nicht einfach sitzen bleiben und warten, dass alles wieder wird wie früher. Wir haben einen Auftrag. Und den erfüllen wir nur, wenn wir rausgehen aus dem gemütlichen Ambiente des Pfarrhauses.

Auf die Straße, in die Klinik, ins Gefängnis, zur Aidshilfe. Zu den Menschen mit ihren Freuden und Hoffnungen, mit ihrer Trauer und Angst. Deshalb besucht Werner Laub Menschen auch zu Hause, er fährt mit seinem Motorroller zu Eltern, die ihr Kind taufen lassen wollen. Er interessiert sich für sie, spricht mit ihnen, lernt sie kennen. „Der Pfarrer mit der Vespa“ wird er von vielen genannt, auch seine Kolleginnen werden auf der Straße oft erkannt. Das zeigt: Sie verlassen das Pfarrhaus, sind präsent im Stadtteil. Gehen raus, starten Aktionen und organisieren Veranstaltungen.

„Wir wollten etwas machen zum Thema Terrorismus und Kriege, weil alles gerade so grausam wirkt“, erklärt Katharina Leser. Ziel war, Stuttgarterinnen und Stuttgartern etwas Hoffnung zu vermitteln. Am Ende stand ein Friedensgebet auf dem Bismarckplatz mit der Botschaft: Gott hat uns nicht verlassen. Das kam an. Menschen blieben stehen, sangen und beteten gemeinsam. Vielen habe das gutgetan, berichtet Maria Strigel de Gutiérrez. Auch viele andere niederschwellige Angebote ziehen Menschen an. Beim Martinsfest kamen 1000 Besucherinnen und Besucher, fürs Adventssingen waren vierzig Liedzettel gedruckt – und viermal so viele wurden gebraucht.

„In der Stadt können wir das alte Kirchenbild viel leichter aufbrechen“, erklärt Felicitas Schaaf. Denn die Wege sind kürzer als auf dem Land, die Menschen sind mobiler. Das macht vieles einfacher, das wissen sie in Stuttgart. Aber diese Chancen müssen eben auch genutzt werden. Gottesdienste in angrenzenden Kirchen finden nicht mehr parallel statt, es gibt nur noch ein Ehrenamtsfest, nur noch einen Gottesdienst an Christi Himmelfahrt. Ausschüsse gibt es nur noch auf Ebene der Gesamtkirchengemeinde, Firm- und Erstkommunionvorbereitung finden gemeinsam mit anderen Gemeinden statt.

„Gott ist in der Stadt und unter den Leuten. Darauf müssen wir nur hinweisen.“

Manches machen sie wie immer schon im Stuttgarter Westen, anderes ganz neu. Aber eines ist wichtig: Fenster und Türen sind immer offen. Und so fällt der Blick aus dem Fenster nicht nur auf den Altarraum, sondern auch auf den Bismarckplatz, auf die Straße, auf die Kneipen und die Bushaltestelle. Orte, an denen das Pastoralteam Kirche und Glauben sichtbar macht. Rauszugehen und aufzubrechen sei eigentlich nichts Besonderes, erklärt Werner Laub: „Denn im Endeffekt fordert Gott seit zweitausend Jahren dasselbe: Lebt euren Glauben in der Welt!“ Und Katharina Leser ergänzt: „Gott ist in der Stadt und unter den Leuten. Darauf müssen wir nur hinweisen.“

Zum Abschluss schließen sie zwar das Fenster – aber öffnen dafür die Türen. Zur Stadt, in die Stadt, für die Stadt. Dem Konzilspapst Johannes XXIII. würde es in Stuttgart heute sehr gut gefallen.

 


Text: Simon Linder (24)

 

Info

Parallel zum Dialogprozess hat das Stadtdekanat Stuttgart 2011 im Auftrag der Diözesanleitung den Entwicklungsprozess „Aufbrechen – Katholische Kirche in Stuttgart“ begonnen, dessen Umsetzung seit 2014 als lokaler Prozess im Rahmen und in Abstimmung mit dem diözesanen Entwicklungsprozess „Kirche am Ort – Kirche an vielen Orten“ läuft.