Der Stuttgarter Stadtdekan Christian Hermes verantwortet in der schwäbischen Landeshauptstadt das Projekt „Aufbrechen“. Im Interview spricht er über seine Erfahrungen und macht deutlich, warum die Kirche gerade in der Großstadt auch politisch agieren muss.

 

Pfarrer Hermes, wenn Sie Papst Franziskus im Aufzug treffen würden und eine halbe Minute Zeit hätten, ihm zu erklären, was das Projekt „Aufbrechen“ ist – was würden Sie sagen?

Die kürzeste Formulierung wäre wohl: Wir versuchen in aller Bescheidenheit, die Impulse, die er der Kirche gegeben hat, hier in unserer Situation in einer Großstadtkirche in Deutschland umzusetzen. Wir wollen eine Kirche sein, die rausgeht in die Gesellschaft, die nach den relevanten Themen für die Menschen fragt und die versucht, aus dem Evangelium Jesu Antworten dafür zu finden.

Es stellt sich also die Frage, was das Evangelium hier und jetzt von uns fordert – was braucht es denn speziell in Stuttgart?

Genau das ist die spannende Frage. Um das herauszufinden, brauchen wir zunächst ein gutes theologisches Fundament. Und dann geht es natürlich auch darum, die Zeichen der Zeit zu erkennen, darauf hat uns das Zweite Vatikanische Konzil ja hingewiesen. Denn die christliche Wahrheit ist kein Passepartout, das zeit- und geschichtslos in jede Situation passt. Ganz im Gegenteil müssen wir in den Lebenssituationen der Menschen unserer Stadt herausfinden, was das Evangelium heute hier in Stuttgart von uns fordert.

Das ist aber sicherlich etwas, was man nicht von heute auf morgen herausfindet. Welche Herausforderungen stellen sich denn während der Suche nach dem, was das Evangelium fordert?

Eine große Herausforderung für uns ist der Übergang von der Volkskirche zur missionarischen Kirche im Volk, wie es unser Bischof ausdrückt. Stuttgart gilt traditionell als protestantische Stadt, aber das stimmt schon lange nicht mehr. Denn aktuell gehört ungefähr die Hälfte der Bevölkerung einer der beiden großen Kirchen an, davon die Hälfte wiederum unserer katholischen. Von denen wiederum hat die Hälfte einen Migrationshintergrund. Damit haben wir hier bei weitem den größten Anteil von Migranten in der ganzen Diözese und das beeinflusst uns natürlich auch. Dadurch sind wir eine sehr internationale und vielfältige Kirche. Dazu kommt die Situation der Urbanität. Papst Franziskus hat dafür als früherer Erzbischof der Megastadt Buenos Aires ein ganz besonderes Verständnis.

Zusätzlich geht die Anzahl der Katholikinnen und Katholiken auch in Stuttgart zurück …

Richtig. Wir haben seit den 70er-Jahren beständig pro Jahr ein Prozent weniger Katholikinnen und Katholiken in Stuttgart. Und auch wenn die Zahl aktuell wegen starker Zuwanderung aus katholischen Ländern wie Polen, Kroatien und Italien stabil ist, so ist doch klar: Wenn wir einfach nur so weitermachen wie bisher, wird das nicht mehr lange gutgehen. Denn dann würde es zwischen den verschiedenen Kirchen hier in der Stadt Verteilungskämpfe geben, zum Beispiel, wenn es um Sanierungen geht. Das war der Ausgangspunkt dafür, dass wir gesagt haben: Wir müssen jetzt etwas tun.

Um aber Gebäude nach den Bedürfnissen der Menschen von heute ausrichten zu können, müssen ja auch inhaltliche Fragen in den Blick genommen werden.

Genau, die pastoral-inhaltlichen Fragen sind natürlich wichtig. Zum Beispiel: Was heißt es, Kirche in einer Großstadt zu sein? Wir wollen im Quartier präsent sein, also als Kirche am Ort, in der Kirchengemeinde, aber auch in größeren Stadtgebieten wie Cannstatt oder der Innenstadt, und natürlich auch in der Gesamtstadt. Und gleichzeitig haben wir weitere Ebenen, wo kirchliches Leben stattfindet, vor allem seit der Gründung des großen Stadtdekanats aus den vorherigen vier Dekanaten und der Zusammenfügung zu einer Körperschaft. Das Faszinierende ist: Während des Prozesses konnten wir pastorale Felder identifizieren und den verschiedenen Ebenen zuordnen. Als große Stadtkirche betreiben wir nun beispielsweise ein Hospiz oder betreuen Leuchtturmprojekte wie ein Spirituelles Zentrum oder das Jugendpastorale Zentrum. Projekte wie diese könnte eine Kirchengemeinde alleine nicht stemmen – aber sie ergänzen deren Handeln sehr gut. Dabei beteiligen wir die Menschen in den Gemeinden und nehmen sie mit – gerade in Stuttgart ist das Thema Beteiligung besonders wichtig, weil bei den Geschehnissen um Stuttgart 21 herum die Seele der Stadt verletzt wurde.

„Kirche in der Stadt und für die Stadt“ wollen Sie sein – so steht es in der Projektbeschreibung zu „Aufbrechen“. Neben dieser institutionellen Weiterentwicklung an bestimmten Standorten ist die zweite Dimension von „Aufbrechen“ das Thema „Begegnungen mit Menschen in der Stadt“. Kann das Projekt dazu verhelfen, dass Menschen wieder das Gefühl bekommen, dass Kirche nah und offen für sie ist?

Ich denke, das ist ganz wesentlich eine Frage der Haltung. Unsere Logik darf nicht sein: Wir wollen uns als Institution selbst erhalten. Denn wir sind dazu da, die Heilsbotschaft Gottes zu den Menschen zu bringen! Und die Menschen brauchen diese Botschaft auch, davon bin ich zutiefst überzeugt. Das geschieht hier eben im städtischen Kontext. Sich darauf einzulassen, bedarf einer gewissen Offenheit. Niederschwelligkeit ist hier das Stichwort. Menschen erzählen mir, dass sie zwar vor vielen Jahren aus der Kirche ausgetreten sind, aber inzwischen mehrmals pro Woche ins Haus der Katholischen Kirche kommen und dort immer nette Leute treffen. Wir müssen uns auch darauf einlassen, dass Menschen sich nicht mehr unbedingt wegen ihres Wohnsitzes zu einer Gemeinde zugehörig fühlen, sondern dass sie mobil sind und sich die Angebote suchen, die zu ihnen passen.

Welche Konsequenzen hat das?

Unsere Angebote müssen Relevanz für die Menschen haben. Wir müssen verstehen, was die Fragen und Sorgen der Menschen sind, gerade derer, die sich nicht so lautstark bemerkbar machen. Denn wenn der Oberbürgermeister etwas von der Kirche erwartet, dann sagt er mir das sehr offen. Aber es gibt auch sehr viele Menschen, die in einer Stadtgesellschaft nicht so eine laute Stimme haben. Deshalb setze ich mich aktuell sehr stark für das Thema bezahlbarer Wohnraum ein, weil wir da in Stuttgart in eine sehr schwierige Situation gekommen sind. Stuttgart ist zu einer der teuersten Städte Deutschlands geworden und deshalb müssen wir als Kirche auch mal die Frage stellen, ob wir eine Stadt nur noch für Reiche sein wollen. Manche wundern sich, dass Kirche so politisch agiert, aber ich glaube, das ist auch genau unser Auftrag.

Ja, in einem Interview wurden Sie auch einmal von Schülerinnen und Schülern gefragt, was Sie unter „Aufbrechen“ verstehen. Ihre Antwort war, dass Kirche sich fragen muss, wozu sie überhaupt da ist, was ihre Aufgaben sind, und dass sie auch erkennen muss, was wir heute anders machen müssen, als wir es gestern gemacht haben …

Genau. Uns beschäftigt beispielsweise auch das Thema „gute Nachbarschaft“ sehr stark. Wir wollen mithelfen, dass Menschen nicht anonym nebeneinander leben, sondern dass wir aufeinander achtgeben. Mit den Geflüchteten haben wir die Erfahrung gemacht, dass wir in einer sehr gastfreundlichen und hilfsbereiten Stadt leben. Hier müssen wir uns vernetzen. Und das zweite Thema, das uns gerade sehr bewegt, sind die Familien, auch resultierend aus der Bischofssynode und dem Schreiben „Amoris laetitia“. Wir überlegen, wie wir zum einen junge Menschen auf dem Weg zu einer Familie, zum anderen aber auch Eltern, deren Kinder aus dem Haus sind, in einer förderlichen Weise begleiten können.

Wenn „Aufbrechen“ jetzt gut funktioniert, wie sieht denn die katholische Kirche in Stuttgart in zehn Jahren aus?

Ich hoffe, dass die Stuttgarterinnen und Stuttgarter dann sagen: Es ist gut, dass es die katholische Kirche gibt, denn sie kümmert sich um vieles, und dann fallen ihnen hoffentlich auch ein paar Beispiele ein. Und darüber hinaus vielleicht, dass die Menschen einfach gerne in der Kirche sind und sich bei uns engagieren.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Text: Simon Linder (24)