Gott begegnen oder besser gesagt, bewusst in der Gegenwärtigkeit Gottes leben, das ist mir ein großes Anliegen in meiner Spiritualität. Festgelegte Gebetszeiten und -formen geben meinem Alltag Struktur. Das hilft mir „dranzubleiben“, egal wie hektisch der Alltag sich auch zeigt. Das gemeinsame Feiern trägt mich über Zeiten, in denen ich mich in meinem Glauben schwer tue und die Zweifel und Fragen hartnäckig sind. Vor allem aber freut es mich, gemeinsam zu feiern: Die Verbundenheit tut einfach gut. Gemeinsam zu singen und zu beten, sich als Suchende zu erleben, die sich danach sehnen, der Liebe Gottes immer mehr Raum in unserer Welt zu geben – das erfüllt mich.

Doch gleichzeitig merke ich immer wie- der: Es kommt viel mehr auf die Momente im Dazwischen an. Gott ist nichts nur für „fromme Stunden“ – Gott zu loben fällt mir leicht, wenn ich mit anderen in einen Gesang einstimme. Aber wie ist es denn mit meiner Dankbarkeit im ganz konkreten Alltag? An Gott zu denken, die Gegenwart Gottes wahrnehmen, ist keine große Kunst, wenn wir gemeinsam beten. Aber was, wenn ich von Termin zu Termin hetze? Wo bleibt da Gott?

Ein Bibelwort, das mich schon seit meiner Jugend leitet, ist die Aussage Jesu: „Bleibt in mir, dann bleibe ich in euch. (…) Bleibt in meiner Liebe.“ (Joh 15) Diese Sehnsucht lockt mich in meiner Gottessuche. Ich erlebe Gott als den/die, der/die mein Leben bejaht. Die mich liebt, trotz und mit all meinen Ecken und Kanten. Gott ist für mich die, die „ja“ zu mir sagt, gerade dann, wenn mein innerer Kritiker zuschlägt. Und diese Zusage, die brauche ich vor allem in meinen alltäglichen Herausforderungen. Mir ist es wichtig, dass mein Alltag durchdrungen ist von kleinen Begegnungsmöglichkeiten mit Gott. Das muss nichts Großes sein, braucht keine „Extra-Zeit” oder besondere Orte. Wenn ich offen dafür bin, dann kann ich Gott immer und überall begegnen. Wie Alfred Delp es so schön ausdrückt: „Die Welt ist Gottes so voll.“ So gehe ich im Folgenden einen Tag durch mit Möglichkeiten der Gottesbegegnung, die mir zu unterschiedlichen Zeitpunkten in meinem Leben wichtig waren. Diese verschiedenen Ideen sollen Anregungen sein, nach den eigenen Formen und kleinen Ritualen zu suchen. Ich erlebe es als sehr wichtig, den je eigenen Ausdruck zu finden: Jede Beziehung ist anders, so auch jede Gottesbeziehung. Vielleicht kann das ein oder andere eine Anregung für die eigene Gottesbeziehung sein – das würde mich freuen!

Morgens, der Wecker klingelt. Da fängt es schon an: Wie starte ich in den Tag? Manchmal hatte ich schon bestimmte religiöse Lieder als Weckerton eingestellt, so z. B. häufig Taizé-Gesänge. Oder ich habe einen bestimmten ersten Satz, ein kurzes Bettkantengebet, mit dem ich aufstehe: „Gott, wecke Du meine Seele!“, „Mit Dir, Gott, stehe ich auf!“, „Öffne Du meine Augen Dich zu entdecken!“ Auch die Morgenhygiene kann zum Gebet werden, so z. B. beim Waschen meines Gesichtes: „Öffne Du mir meine Sinne!“ oder beim Zähneputzen: „Hilf mir Herausforderungen nicht verbissen anzugehen.“ Beim Anziehen hat mich eine Zeitlang eine andere Formulierung des Schriftwortes „Du kleidest mich in Gewänder des Heils“ begleitet. Bei mir lautete es: „Du bedeckst mich mit Deiner Liebe und Treue.“ Unsere gemeinsame Gebetszeit hilft mir beim Ausrichten: einstimmen in die Psalmen, nicht selber nach Worten suchen müssen, sondern mich hineingeben in Worte, die seit Jahrtausenden gesprochen werden. Dann der erste Schluck Kaffee, der mich wärmt: „Danke, Gott!“

Der Blick in den Kalender ist für mich oft auch Gebet: „Das steht an, Gott, da brauche ich Deine Gegenwart besonders! Darauf freue mich – und davor fürchte ich mich. Doch ich weiß: Du bist bei mir!“ Gerade dann, wenn mich etwas herausfordert, nehme ich mir einen Moment mehr Zeit: „Gott, hilf mir offen für die Begegnung zu bleiben und mich nicht zu verschließen aus Angst vor Verletzungen.“

Auch beim Schuheanziehen begleitet mich manchmal ein kurzes Gebet: „Wenn ich die Schuhe nun anziehe, dann lass mich dennoch alles, was mir unter die Füße gerät, als heiligen Boden begreifen.“ Ab ins Auto. Die Ampel schaltet auf Rot. Ich schaue auf die Menschen, die an der Ampel stehen: „Gott, Du bist da, in jedem und jeder!“ Vorm ersten Termin noch schnell Brezeln für die Sitzung besorgen. Die Schlange ist lang, ich werde ungeduldig – und merke, dass meine Stimmung kippt. Es wird eng … doch bevor ich mich jetzt hineinsteigere, beginne ich innerlich die Menschen vor mir zu segnen. Der Hl. Franziskus sieht in jedem Bruder und Schwester – so versuche ich es auch: „Gott, was auch immer vor jedem und jeder einzelnen steht, sei Du dabei, schenke ihnen gute Worte!“

Dann kommt ein Termin nach dem nächsten. Immer wieder muss ich zwischendrin mein Handy nutzen. Mein Bildschirmschoner ist immer ein Bibelwort oder ein geistliches Bild, mit dem ich unterwegs bin – gerade ist es eine Kreuzesdarstellung: der Hl. Franziskus, der den Gekreuzigten umarmt. Vorher war es eine Karte mit der Aufschrift „Dance your life!“ Immer wieder verändere ich den Hintergrund, um ihn noch bewusst wahrzunehmen. Zwischendrin blitzt die Sonne so richtig durch – ich mache ein Foto, von der Sonne beschienen, und stelle es mit einem kurzen Gebet auf Instagram: „Gott, Du bist die Sonne! Du machst es hell und lässt mich lächeln.“ Auf dem Heimweg komme ich an einem Klettergerüst vorbei – ich steige aus einer Laune hinauf und denke darüber nach, wie oft ich ins Straucheln gerate – und wie froh ich bin, mich doch im Letzten von Gott gehalten zu wissen.

Später koche ich einen Kaffee. Der Automat braucht ein wenig. Die Zeit nutze ich für einen kurzen Moment mit Gott: Ich atme bewusst ein und aus. Konzentriere mich nur aufs Atmen. Um wieder anzukommen bei mir und bei Gott. Ich trinke den Kaffee, trinke ihn bewusst, schmecke bewusst und bin dankbar für diese Pause. In dem kleinen Kaffee spüre ich, wie beschenkt ich bin.

Weiter geht es. Ein Trauergespräch. Danach eine Studentin in großer finanzieller und psychischer Not. Ich mache mir bewusst, dass Gott dabei ist. Ich bin nicht allein, muss nicht die perfekte Antwort haben. In dieser Gewissheit kann ich die Fragen mit ihnen aushalten. Ich muss den Schmerz nicht nehmen. Auch ich muss nur da sein, hören, was nun von mir gebraucht ist. Wo zeigt sich Gott, hier im Leid? Vielleicht darin, dass ich da bin und mit aushalte?

Ich laufe zurück und verzichte bewusst darauf, Musik oder einen Podcast zu hören. Nach den Gesprächen und all den Gefühlen brauche ich Zeit, um wieder ganz im Moment anzukommen. Das beste Mittel: bewusste Sinneswahrnehmung! Meine Sinne stehen mir immer zur Verfügung: Was höre ich, was sehe ich, was rieche ich, wie fühlt sich der Boden unter meinen Füßen an …? Ich komme an einem sprudelnden Brunnen vorbei: „Gott, sei gelobt für Schwester Wasser!“ und ich denke darüber nach, ob „sprudelnde Quelle“ nicht auch eine wunderbare Bezeichnung für Gott ist.

Gemeinsames Essen. Meine Mitschwester hat gekocht. Das kleine Gebet, das sie spricht, hilft in der Gottesbeziehung zu bleiben: „Gott, wir danken Dir für alle Speisen auf unserem Tisch und für Deine Gegenwart unter uns.“ Danach beten wir die Vesper und halten eine Zeit der stillen Anbetung. Wie am Morgen das gemeinsame Eintauchen in das Gebet der Kirche (ich stelle mir gerne vor, an wie vielen Orten welch unterschiedliche Menschen die gleichen Worte beten …) und das stille Sein vor Gott, ohne jegliches „Müssen“ – einfach nur Dasein, mit Ihm und vor Ihm.

Noch ein bisschen Zeit mit der Mitschwester und dann noch einmal an den Schreibtisch: letzte E-Mails erledigen. Das Absenden ist verbunden mit einem kurzen innerlichen Segenswunsch. Und das Herunterfahren des Laptops mit einem Stoßgebet: „Wie der Laptop runterfährt, so lass mich nun runterfahren bei Dir!“ Ich nehme mir Zeit für die Schrifttexte vom nächsten Tag, damit sie mich durch den Tag begleiten mögen. Zum Schluss reduziere ich sie auf ein einziges Wort. Später im Bett liegend geht mein letzter Blick, bevor ich die Augen schließe, auf eine Ikone, letzte innerlich geflüsterte Worte. Das letzte ist das Wort der Schrifttexte. Wenn es dann in meinem Gehirn weiterredet und mich am Einschlafen hindern möchte, versuche ich zurückzukommen zu diesem einen Wort. Jetzt klingt das alles vielleicht so, als würde ich in steter bewusster Gottesbeziehung durch den Alltag gehen. Schön wäre es … Es gibt so viele Momente, wo das innere Gefühl dann doch eine Einsamkeit ist oder Alltäglichkeiten sich Raum nehmen, ohne jeden Bezug zu Gott. Genau deshalb suche ich immer wieder nach Ankerpunkten, um eben nicht allein durch den Alltag zu gehen – sondern mir bewusst zu machen: Gott ist da, gegenwärtig, in der Schöpfung, im Nächsten und – auch in mir.

ZUR PERSON
Sr. Marie-Pasquale Reuver hat Theologie studiert, ist ausgebildete Pastoralreferentin sowie Logo- therapeutin. Die Franziskanerin von Siessen arbeitet derzeit als Hochschulseelsorgerin der ÖHG Hohenheim und in der Pastoral an verschiedenen Einsatzorten in Stuttgart und Umgebung. Sie ist außerdem Autorin des Buches „Streu Glitzer drauf!“ und im März veröffentlicht sie ihr neustes Buch „Missbrauchsbetroffenen in Kirche und Gemeinde sensibel begegnen“.