Übergib Gott deinen Autoschlüssel. Lass ihn auf dem Fahrersitz deines Lebensautos Platz nehmen und wechsle du auf den Beifahrersitz.
Ich hatte gerade meine Ausbildung zur Exerzitienbegleiterin abgeschlossen, mich mit den Inhalten der vier Exerzitienwochen des Ignatius von Loyola beschäftigt, seine Weise der Schriftbetrachtung geübt sowie die Regeln zur Unterscheidung der Geister, um Menschen auf ihrem geistlichen Weg begleiten zu können, als mich eine Freundin einlud mich auf das kontemplative Beten einzulassen. Dies entsprach durchaus meiner Sehnsucht nach weniger Worten beim Beten, nach Schweigen und stillem Verweilen vor Gott. Ich ließ mich also auf das Abenteuer ein und fuhr nach Gries in Oberfranken, um kontemplative Exerzitien zu machen.
Der Jesuit Franz Jalics hatte dort 1985 ein Meditationszentrum gegründet, in dem regelmäßig Kontemplationskurse stattfanden. Daran teilzunehmen hieß: zehn Tage durchgängiges Schweigen ohne Mobilgeräte, ohne Lektüre – nicht einmal die Bibel –, zehn Tage lang mehrere Stunden unter fachkundiger Anleitung meditieren. Das sehr schlichte, aber geschmackvoll eingerichtete Haus in Oberfranken, umgeben von Wiesen und Wäldern, lud dazu ein, mich im absichtslosen, zweckfreien Dasein vor Gott zu üben. Angefangen von der Wahrnehmung mit allen Sinnen in der Natur und dem Erspüren, welche Resonanz dies auslöst, bestanden die nachfolgenden Übungsschritte darin, in der Meditation nicht nach Lösungen von Problemen zu suchen, den Gefühlen Raum zu geben, ohne deren Ursachen zu analysieren und zu bewerten, und vor allem, was gar nicht so einfach ist, dem Kopfkino Einhalt zu gebieten. Es galt die Wirklichkeit so zu nehmen, wie sie sich mir zeigte und nicht, wie ich sie gerne gehabt hätte. Eigene Vorstellungen und Wünsche bezüglich des Exerzitienverlaufs sollten hintangestellt werden, um sich ganz auf die Gegenwart Gottes auszurichten.
Das gemeinsame Meditieren in der Kapelle, Begleitgespräche und die tägliche Eucharistiefeier mit Ansprachen zu Themen der Kontemplation, basierend auf Gottes Wort als Grundlage der christlichen Kontemplation sowie die schrittweise Hinführung zum Beten mit dem Namen Jesus Christus waren eine wertvolle Hilfe beim Wahrnehmen innerer Prozesse. Lassen – sich lassen – zulassen und geschehen lassen statt sich mit ungelösten Fragen zu beschäftigen und nach Lösungswegen zu suchen – diese Haltungen hatte schon Meister Eckhart seinerzeit für ein geistliches Leben empfohlen. Franz Jalics hat es mit einem eindrücklichen Bild auf seine Weise ausgedrückt: „Übergib Gott deinen Autoschlüssel. Lass ihn auf dem Fahrersitz deines Lebensautos Platz nehmen und wechsle du auf den Beifahrersitz. Dass ich diesbezüglich auch nach vielen Kontemplationsexerzitien immer noch am Üben bin, gestehe ich gerne ein. Es waren wertvolle Tage, die ich in Gries erleben durfte. Sie haben meine bisherige Weise des Betens verändert.
Doch in den Alltag zurückgekehrt, erlebte ich erst einmal eine Bruchlandung. Eine Fülle von Terminen und Aufgaben prasselten über mich herein, so dass die in der Stille gefassten Vorsätze in Gefahr waren, rasch in Vergessenheit zu geraten. Wie sollte es möglich sein, im Alltag kontemplativ zu leben, wenn Kontemplation – wie häufig kritisiert – eben kein Abheben in höhere Sphären, sondern ein Beten mit Bodenhaftung ist? Es war die Prioritätenliste von Franz Jalics, die mir half, trotz vielfältiger beruflicher und privater Herausforderungen im Alltag mit Gott verbunden zu bleiben, immer wieder zum Wesentlichen durchzudringen, mich nicht im (kirchlichen) Aktionismus zu verlieren, sondern Gottes Geistkraft in und durch mich wirken zu lassen. Konkret sieht die Prioritätenliste vor, dass – man höre genau hin – der Schlaf an erster Stelle steht, denn nur im ausgeschlafenen Zustand gelingt es, beim Beten präsent zu sein.
Als zweite Priorität nennt Franz Jalics, für ausreichend Bewegung und Sport zu sorgen. An dritter Stelle steht das Gebet, dann die Pflege von Beziehungen, von Freundschaften und kulturellen Veranstaltungen. Und last not least soll die Arbeit, auch wenn sie zeitlich einen großen Raum einnimmt, an letzter Stelle stehen. Oh je, dachte ich, meine Prioritätenliste sieht ganz anders aus. Sie steht auf dem Kopf. Doch nach Jahren kontemplativen Betens und Beherzigens der Prioritätenliste nahm ich eine Veränderung wahr. Mein Leistungsdenken rückte allmählich in den Hintergrund. Ich begann umzudenken, den pastoralen Aktionismus zu vermeiden, der oft genug nur ins Leere läuft, und übte mich im Geschehenlassen, mich von Gott führen zu lassen. Noch immer arbeite ich daran, vermutlich bis an mein Lebensende. Auch falle ich immer wieder in alte Gewohnheiten zurück. Doch das kontemplative Beten, das mir inzwischen zur regelmäßigen und lieben Gewohnheit geworden ist, hilft mir gelassener zu sein. Es hat mich im Vertrauen gestärkt, dass Gott mir in allen Dingen helfend und stützend entgegenkommt. Kontemplativ mitten in der Welt unterwegs zu sein ist für mich der Weg „vom Machen zum Sein“ geworden.
Dabei begleitet mich ein Wort aus dem Matthäusevangelium: „Die Menge war voll Staunen über Jesu Lehre, denn er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat, und nicht wie ihre Schriftgelehrten.“ Mt 7,28. Das griechische Wort für Vollmacht „exousia“ wird übersetzt „aus dem Sein“. Jesus wurde also von den Leuten als jemand wahrgenommen, der aus dem Sein lebt, lehrt und handelt. Das inspiriert mich. Wie anders hätte ich meine Berufung als Krankenhausseelsorgerin leben können und auch jetzt im Ruhestand, wenn ich mich nicht in der täglichen Ausrichtung auf Jesu Wort und Beispiel im absichtslosen Dasein üben würde, im Bewusstsein seiner Gegenwart in anderen und in mir. Hat Gott doch dem Mose am brennenden Dornbusch für alle Generationen und Zeiten seinen Namen kundgetan: Ich bin, der ich bin da. Ich muss Gott also nicht erst zu den Menschen bringen. Er ist doch schon da! Mit IHM verbunden, vermag ich ihn in den Menschen mit ihren Hoffnungen und Freuden, ihren Nöten und Ängsten wahrzunehmen. In diese Haltung des Vertrauens möchte ich immer mehr hineinwachsen.
TEXT: Ute Wolff ist Pastoralreferentin im Ruhestand, Geistliche Begleiterin und Exerzitienbegleiterin