Eine ungemütliche Bilanz meines Auslandssemesters in Oxford
Ein Essay von Elisabeth Bökler
Vergangenen Oktober stand ich mit zwei schweren Koffern und meiner Mama am Bahnhof in Ulm und habe auf den Zug gewartet, mit dem meine Reise nach England beginnen sollte. Eine Fahrt in mein Auslandssemester, in eine mir noch unbekannte Stadt, in ein mir noch unbekanntes, neues Kapitel meines Lebens. Als der Zug aus dem Bahnhof ausgefahren war und meine Mama und der Bahnsteig immer kleiner wurden, war das letzte bisschen des Festhaltens an meinen gewohnten Umgebungen verschwunden.
Auf dem langen Weg durch den regnerischen Tag kam ich ins Gespräch mit einer anderen deutschen Austauschstudentin. Sie war wie ich auf dem Weg nach Oxford und dabei genauso überfordert und suchend wie ich. Wir haben über unsere Überforderungsmomente geredet und gelacht. Dann viel geschwiegen, verarbeitend. Der Versuch, Gemütlichkeit zu erzeugen, indem man die Überforderung mit dem Ungemütlichen teilt.
In meinen ersten Tagen in Oxford habe ich versucht, diese Überforderungen zu verstecken. Überforderung damit, mich nicht so präzise wie in meiner Muttersprache ausdrücken zu können. Die sozialen Normen und Erwartungen nicht besonders gut zu beherrschen und zu erkennen. Überforderung damit, Menschen kennenzulernen, die sich in dieser Kultur und Sprache, in diesem Umfeld wohlfühlen. Für mich war das Einleben ungemütlich.
Ich habe schnell realisiert, dass wer ich bin, was ich für meinen Charakter halte, auf dem Privileg der Gemütlichkeit aufbaut. Gemütlichkeit, weil ich mich daheim im Zwischenmenschlichen fallenlassen kann. Weil die Leute mich kennen und mir mit Wohlwollen entgegenkommen. Weil ich mich wohlfühle in den deutschen sozialen Umfangsformen, weil ich die deutsche Sprache für mich nutzen kann. Innerhalb meiner eigenen Kultur war die daraus resultierende Gemütlichkeit eine Selbstverständlichkeit. Nicht, dass die englische Kultur grundlegend unterschiedlich oder abgrenzbar von der deutschen wäre. Ich hatte weiterhin, auch in England, mehr Privilegien der Gemütlichkeit als andere. Und über meine Zeit in Oxford hinweg habe ich es geschafft, mir dort Räume der Gemütlichkeit zu schaffen. Am Ende meines Auslandssemesters konnte ich ‚ich‘ sein, ohne die Sprach-, Humor- und Knigge-Barrieren.
Nun bin ich seit einiger Zeit wieder zurück in meiner Studienstadt Tübingen. Aber was zuvor so gemütlich erschien, ist es auf einmal nicht mehr. Oxford hat mich verändert – vor allem: Die Menschen dort haben mich verändert, und irgendwie passt etwas an der altgewohnten Gemütlichkeit nicht mehr. Grund dafür sind all die mir fremden, für mich surreal-gewaltvollen Erfahrungen, die meine Freunde in Oxford in ihrer unschönbaren Drastik mit mir geteilt haben. Um nur ein Beispiel von unendlich vielen zu nennen: Ich kann meine Welt nicht mehr als heile Welt sehen, während ich lebhaft im Hinterkopf habe, auf wie viele Arten sie das für meinen türkischen Kumpel nicht ist. Er ist einer der liebevollsten, großherzigsten, wunderbarsten Menschen, die ich kenne. Trotzdem wird er an jeder europäischen Grenze wie ein Terrorist behandelt.
Er zittert um jedes Visum – das ich als Deutsche gar nicht brauche, um einreisen zu können – und musste sich als einziger aus meiner Freundesgruppe aufgrund seiner Nationalität bei der englischen Polizei vorstellen gehen. Ich war tief beeindruckt, wie er all diese subtil-institutionalisierten, alltäglichen, konstanten Entwürdigungen mit einer ruhigen Gelassenheit ertrug und durchlebte. Ich habe Menschen kennengelernt, die im Gegensatz zu mir schon echte Armut gesehen haben. Und Menschen, die in einem westlichen, scheinbar ‚entwickelten‘ Land aufgrund ihrer Hautfarbe noch heute Angst um ihr Leben haben müssen – und das im selben Alltag, der für mich sicher ist. Ich konnte spüren, wie verletzend diese alltäglichen Gewalterfahrungen die Person meiner Freunde in Frage stellen.
Das hat etwas mit mir gemacht, es hat mir brutal gezeigt, was ich alles in unsrer scheinbar geteilten Realität nicht wahrnehme. Es lässt mich zurück mit einem tiefgehenden Gefühl der Ungemütlichkeit mit meiner ehemaligen Gemütlichkeit. Ich empfinde jetzt stärker in Bezug auf manche Gerechtigkeitsthemen: Das Mehr an Emotionen stammt her von einem Weniger an emotionaler Kälte. Die scheinbar heile Welt angekratzt durch das reale Leiden meiner Freunde, die nicht mit den gleichen Privilegien wie ich beschenkt sind. Mein rationaler Blick für ungerechte Verhältnisse hat sich gerade geschärft, weil ich jetzt emotional andocken kann. Meine privilegierte Blindheit ist ein bisschen sehender geworden, weil ich die emotionale Distanz verlerne. Die Betroffenheit meiner Freunde lässt mich spüren, wie irrational eine Ignoranz gegenüber bestimmten Diskursen wie der Kapitalismus- oder Rassismuskritik eigentlich ist, besonders in der Theologie.
Die zugrundeliegenden Problemlagen sind fundamental und radikal lebensbedrohlich – nur eben aktuell nicht für mich. Es ist ein Privileg, ein Luxus, diesen Schmerz nicht an sich heranlassen zu müssen. In einer ‚Bubble‘ der Gemütlichkeit zu leben, in der der Schmerz derer, die sie ermöglichen, unsichtbar bleibt. Oxford – ironischerweise und in all der Überprivilegiertheit – hat mich dafür etwas sensibler gemacht. Ich habe mich weiter entfernt von einem Wohlfühlchristentum: Ja, Gott liebt mich. Aber ja, Gott steht auch auf der Seite der Unterdrückten. Und in den meisten Fällen stehe ich da auf der falschen Seite.
Meine Begegnungen in Oxford haben mir einen neuen Blick auf altvertraute Kontexte geschenkt. Mich und meine Umgebung in einem neuen Licht zu sehen verändert, was ich für diesen Kontext durch die eigene Person tun will. Gerade als Theologiestudierende empfinde ich den Druck, die eigene ‚Berufung‘ zu kennen, als ganz schön groß. Ich bin noch immer auf der Suche – aber diese Suche passiert jetzt aus einem anderen Blickwinkel heraus. Ich suche anders, ich kämpfe um Empathiefähigkeit für unsichtbar gemachte und ihrer Stimme beraubte leidende Mitmenschen. Ich versuche, eine produktive Ungemütlichkeit in meinen Kontexten der scheinbaren Gemütlichkeit zu leben. Und ich hoffe, dass ich bald wieder mit zwei schweren Koffern am Bahnhof stehe, wissend, wohin mich diese neu gefundene produktive Ungemütlichkeit (be-)ruft.
Zur Person
Elisabeth Böckler (24) ist in Friedrichshafen aufgewachsen und lebt seit 2016 in Tübingen, wo sie Katholische Theologie studiert. Von 2017 bis zu ihrem Auslandssemester 2021/22 an der Universität Oxford war sie Mitglied im Redaktionsteam von ‚berufen‘.