Der Advent ist Vorfreude auf Weihnachten, auf die Familienzeit, auf die Ankunft und Geburt Jesu. Viele vergessen aber, dass der Advent auch die Zeit des Wartens auf das Wiederkommen von Jesus Christus ist. Adventliche Menschen verlieren nicht aus den Augen, dass es nicht reicht, auf Christus tatenlos zuwarten, sondern auch in jedem Moment ihres Lebens für Christus zu handeln.
Wegen Mitwisserschaft beim Hitlerattentat und damit Hochverrats wird Alfred Delp SJ am 28. Juli 1944verhaftet, vom Volksgerichtshof am 11. Januar 1945zum Tode durch den Strang verurteilt und am 2. Februar 1945 hingerichtet. Mit gefesselten Händen schreibt er im Gefängnis Tegel wenige Wochen vor seiner Hinrichtung vom „adventlichen Menschen“. Um sein Leben bangend hebt er damit den Advent in einen existenziellen Horizont. Dorthin gehört dieser auch von den liturgischen Texten her gesehen. Adventliche Menschen warten nicht aufs Christkind, sondern auf die Wiederkunft des Herrn, der sein Reich der Gerechtigkeit und des Friedens heraufführt.
Delp rechnet mit einem ungerechten Urteil und damit, dass er sterben muss. Das tut normalerweise kein Mensch. Im alltäglichen Sorgen, Planen und Tun denkt niemand daran, dass das eigene Leben begrenzt ist und jeder sterben muss. Das ist sicher auch gut so. Denn das Leben in der Familie oder im Beruf, selbst in der Kirche, verlangt, dass die Zukunft geplant wird. Eltern überlegen sich, welche Schule ihr Kind besuchen soll, damit es seine Fähigkeiten am besten entfalten kann. Junge Menschen haben eine bestimmte Vorstellung ihrer beruflichen Ziele, ihrer Lebensform, ihres Lebensgefühls. Wer auf den Ruhestand zugeht, macht sich Gedanken, wie er seinen Lebensabend gut und möglichst selbst bestimmt verbringt. Verantwortliche in der Kirchenleitung beschäftigen sich mit der Organisation der Pfarreien, damit diese auch künftig handlungsfähig bleiben.
Wie eine ganze Welt buchstäblich darüber zu Tode erschrickt, dass sie sterblich ist, erlebten wir durch die Corona-Erschütterung. Christen hätten dabei eigentlich gelassen bleiben und sich zu ihrem Trost ihres rettenden Glaubens vergewissern können, den Paulus so zusammenfasst: „Wir wurden ja mit ihm [Christus] begraben durch die Taufe auf den Tod, damit auch wir, so wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt wurde, in der Wirklichkeit des neuen Lebens wandeln.“ (Röm 6,4)
Aber es war natürlich nicht so. Von wenigen Ausnahmen abgesehen hatten alle, die sich zu Christus bekennen, genauso Angst um ihr Leben wie Nicht-Glaubende. Die opferbereiten italienischen Priester, die trotz Ansteckungsgefahr Menschen beim Sterben begleiteten, waren eine alle provozierende Ausnahme.
Ars moriendi
Im monastischen Leben gibt es die tägliche geistliche Übung, Schlafengehen und Aufstehen als Bilder für das Sterben und die Auferstehung zum ewigen Leben zu sehen. Das gelingt sicher nicht jeden Tag in der größten Innigkeit, aber das stete Einüben in die Hoffnung über diese Welt hinaus verändert und lässt allmählich die Prioritäten des Lebens anders setzen.
So Übende erleben immer häufiger, dass sich ihnen Christus, der Auferstandene, in kleinsten Dingen des Alltags zeigt und die Angst vor dem Sterben vertreibt. Warme Sonnenstrahlen auf der nassen Haut werden so zur Ewigkeitserfahrung, genauso wie eine endlich gut geschaffte Prüfung oder die Geburt eines Kindes. Es sind Momente eines Glücks, das noch aussteht und doch jetzt schon aufstrahlt und wahrzunehmen ist. Solche Augenblicke täglich einzusammeln bestärkt die Erwartung auf eine heilvolle Vollendung des eigenen Lebens wie der Welt überhaupt. Zudem lässt es die Gemeinschaft mit dem vollendeten Christus erfahren, der in jedem Menschenlebt. Paulus formuliert prägnant: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.“ (Gal 2,20)
Im Kreuz ist Heil
Allerdings gilt das nicht nur für die glückvollen Erfahrungen. Denn die lebendige Christus-Gemeinschaft ist eben auch in schmerzlichen Erlebnissen zu finden: „Im Kreuz ist Heil!“ (Liturgie). Das kann eine unglaubliche Herausforderung sein. Plötzlich wird ein junger Familienvater krank. Wie sollen Frau und Kinder, auch er selbst in christlicher Hoffnung damit umgehen? „Erkenne in ihm, in ihr das Antlitz deines leidenden Sohnes!“, heißt es in einem Gebet bei der Krankensalbung. Es geht nur in der Suche nach dem mitleiden berufen den Christus, der die Welt besiegt hat (vgl. Joh 16,33).
Das ist der Extremfall. Doch auch bei kleineren Durchkreuzungen des Alltags fällt es oft genauso schwer, das Geheimnis des Glaubens zu realisieren. Das Zusammenleben auf zu engem Raum fordert eine Klärung der Bedürfnisse. Eine Erschöpfung zwingt dazu, die eigenen Ressourcen sorgfältiger anzuschauen. Eine Kündigung verlangt eine neue Orientierung.
Adventliche Menschen versuchen, selbst in bitteren Veränderungen, schier unüberwindlichen Zumutungen bis hin zu schweren Schicksalsschlägen den mitleidenden Christus zu sehen, der aber eben auch in seiner Wiederkunft die Welt vollendet. Das istein schwieriger Weg, der eine große Entschlossenheit und viel Kraft verlangt. Die Schriften Alfred Delps zeugen davon.
Delp schreibt am 16. Dezember 1944 an Luise Österreicher, seine Sekretärin in München: „Was Eleganz und Selbstsicherheit hieß, das ist alles ganz und gründlich zerbrochen. Schmerzlich. Hab keine Sorge, ich bemühe mich, kein Kleinholz zu machen, auch wenn es an den Galgen gehen sollte. Gottes Kraft geht ja alle Wege mit. Aber es ist manchmal schon etwas schwer. Georg [Delp selbst] hat immer wieder versucht, dieses Wimmern zu verwandeln in die beiden einzigen Wirklichkeiten, um derentwillen es sich lohnt, da zu sein: Anbetung und Liebe.“ (Gesammelte Schriften, 49)
Adventliches Warten ist umsichtig
Das ist sicher eine einzigartige Herausforderung, aber sie gilt allen Christen auch in weniger brisanten Lebenssituationen. Je mehr ein Mensch lernt, in seinen Erfahrungen durchkreuzten Lebens auf Christus zu schauen, umso mehr wächst auch die Christus-Kraft, mit der er sich in seinem Lebensumfeld Jesusnachfolgend für andere einsetzt. Corona deckte nicht nur auf, wie verwoben die globalen Interessen und wie hilflos alle Menschen im Letzten sind, sondern auch, wie wenig Leute im Blick auf das Gleichgewicht der Schöpfung den eigenen Lebensstil reflektieren und diesen gegebenenfalls einschränken wollen.
Eine Kirchengemeinde bietet eine kaum zu überschätzende Chance, einander in solchem lebensnahen Glauben zu bestärken. In ihr richtet das Wort Gottes die Hörenden auf, schenkt ihnen die Nähe des Herrn und gibt ihnen Orientierung für ein Christusgemäßes Leben. Die Sakramente werden zu „Medikamenten“ ewigen Lebens (Liturgie). Selbstverständlich zieht das Kreise. Eine solche Gemeinde möchte als Ganzes genauso wie die einzelnen, die zu ihr gehören, das, was sie zutiefst erfüllt, mit anderen teilen, auch ihnen den Trost zukommen lassen. Sie schaut, wer allein oder unglücklich ist, ungerecht behandelt wird oder sonst des Beistands bedarf.
Delp sieht es so: „Damit [mit „Diakonie“] meine ich das Sich-Gesellen zum Menschen in allen seinen Situationen in der Absicht, sie ihm meistern zu helfen, ohne anschließend irgendwo eine Spalte und Sparte auszufüllen. (…) ‚Geht hinaus‘ hat der Meister gesagt und nicht: ‚Setzt euch hin und wartet, ob einer kommt.‘ “ (Gesammelte Schriften, 320)
Wenn sich Kirche aus solchen im erfahrenen Glauben bewährten Frauen und Männern bildet, braucht sie keine Sorge um ihren Bestand zu haben. Sie wird zum Zeichen der Hoffnung in allen gesellschaftlichen Bereichen ohne weitere Strategien und Absicherungen.
ZUR PERSON
Roland Rossnagel ist Pfarrer der Deutschordensgemeinde Heilbronn und seit diesem Jahr kommissarischer Dekan des Dekanats Heilbronn-Neckarsulm. Von 2001 bis 2011 war er Spiritual am Priesterseminar der Diözese Rottenburg-Stuttgart sowie dem Tübinger Theologenkonvikt Wilhelmsstift.