Das Studium kann einer von vielen Lebens-abschnitten sein. Aber dieser Abschnitt kann bewusst mit Gott gegangen werden – nicht nur religiös gesehen, sondern als Orientierung und als Zuhörer und Wegbegleiter.

Wenn ich gefragt werden würde, welche Geschichte aus der Bibel meine Arbeit als Hochschulseelsorgerin für mich am ehesten beschreibt, dann würde ich eine Erzählung aus der Apostelgeschichte nennen: Es ist die Geschichte von Philippus, der einen äthiopischen Beamten trifft. Der Beamte ist unterwegs. Er kommt vom Jerusalemer Tempel und möchte wieder in seine Heimat. Er sitzt da und liest in der Bibel, versteht sie aber nicht. Da kommt Philippus zu ihm und fragt: „Verstehst du auch, was du liest?“ Und dann kommen die beiden ins Gespräch. Philippus gibt dem Äthiopier eine „Lesehilfe“ und dieser lässt sich taufen. Am Ende treten beide wieder ihren Weg an. Philippus verschwindet. Und vom Beamten heißt es: „Er ging fröhlich seines Wegs!“

Zufällige Begegnungen der abenteuerlichen Art

Zugegeben, auf den ersten Blick ist das vielleicht eine etwas abenteuerliche Geschichte, die sich nicht unbedingt von selbst erklärt. Und doch fällt sie mir immer wieder ein, wenn ich nach meiner Aufgabe an der Hochschule in Reutlingen gefragt werde.

In der Erzählung begegnen sich zwei Menschen. Und sie gehen ein Stück Weg miteinander. Es ist eher eine zufällige Begegnung. Aber in dieser Begegnung, da verändert sich etwas. Aus der erwächst die Kraft, dass einer seinen Weg weitergehen kann.

Solche Begegnungen, die einen Großteil meiner Arbeit ausmachen, sind ein Geschenk. Und sie ereignen sich eben meistens auch ganz zufällig: Wenn ein Student vorbeikommt, um sich einfach mal was von der Seele zu reden. Oder wenn ich einer Studentin bei den nächsten Monatsmieten helfen kann und wir gemeinsam nach einer Finanzierung für ihr Studium schauen. In meiner Arbeit ist (fast) nichts einfach vorgegeben. Das meiste orientiert sich zuerst an dem, was mein Gegenüber mitbringt. Und das macht die Sache manchmal abenteuerlich, so abenteuerlich wie unsere Geschichte.

Zusammenhänge gemeinsam sichtbar machen

„Verstehst du auch, was du liest?“ Diese Frage ist an der Hochschule ganz zentral. Denn mit Verstehen sind die Studierenden und Lehrenden, für die ich da bin, ja auf jeden Fall beschäftigt. Und auch wenn ich selbst keine Ahnung von Chemie, Technik oder Informatik habe, so geht es in meiner Arbeit doch auch immer wieder darum, Zusammenhänge im persönlichen Leben zu verstehen. Zu verstehen, wie unser Leben mit dem, was uns begegnet und womit wir konfrontiert werden, zusammenhängt. Für mich ist es wichtig, dass auch solche Fragen an der Hochschule einen Raum bekommen. Dass alles Studieren und Lehren nicht nur im Eigennutz einen Sinn hat, sondern gerade darin, mit unserem Wissen diese Welt, unsere Gesellschaft zu prägen und verantwortlich zu gestalten. Ich glaube, das ist in unserer Zeit wichtiger denn je. Deshalb ist die Hochschule auch ein Ort, an dem es gilt, diese Zusammenhänge sichtbar zu machen; zu verstehen, indem man voneinander und miteinander lehrt und lernt.

Die Hochschule in Reutlingen hat sich aus diesem Grund auch in besonderer Weise die Internationalität auf die Fahne geschrieben. Damit wir voneinander lernen. Es bereichert uns, wenn wir Menschen aus anderen Ländern, mit anderen kulturellen Prägungen kennenlernen. Die Geschichte von dem äthiopischen Beamten erzählt ja auch von einer solchen interkulturellen Begegnung, in der sich Verstehen ereignet. Wir lernen dabei nicht nur etwas über den anderen, sondern gleichzeitig auch etwas über uns selbst.

Verstehen wir auch alles?

„Verstehst du, was du liest?“ Manchmal verstehen wir unser Leben aber auch einfach nicht. Manchmal werden wir mit Situationen konfrontiert, in denen es nicht eine Frage des besseren Wissens ist, dass wir sie verstehen können. Nicht bei allem ist es so, dass wir durch mehr Lernen und Lesen das Verstehen einfach erreichen könnten. Manche Fragen finden keine Antwort: Die Frage, warum es Leid gibt in unserer Welt, aber vielleicht auch im persönlichen Leben. Dinge, mit denen wir nicht fertig werden und die uns bedrängen.

Philippus geht auf den Äthiopier zu und setzt sich zu ihm. Im Gespräch eröffnet er ihm einen Raum, in dem er sich auseinandersetzen und schließlich begreifen kann. Er öffnet dem Beamten den Blick auf etwas, das ihm das Begreifen ermöglicht: auf die Geschichte Jesu. Diese Geschichte, in der Gott zu uns Menschen kommt und uns nahe ist. Diese Geschichte, in der Gott das Leiden der Menschen zu seinem eigenen Leiden macht, damit wir nicht allein sind. Der da ist und alle Wege unseres Lebens begleitet, nicht trotz dem, was uns begegnet, sondern in dem und durch alles hindurch.

Darauf kommt es an, darum betreiben wir an der Hochschule Seelsorge: Weil wir glauben, dass Gott sich um uns sorgt. Dass ihm der Mensch nicht egal ist. Sondern dass jedes Leben heilig ist, gleich welcher Religion oder Konfession, unabhängig von Lebensentwürfen oder Kirchenzugehörigkeit. Wir betreiben Seelsorge, weil Menschen andere Menschen brauchen, denen sie sagen können, was sie bedrückt und wo sie Hilfe brauchen. Manchmal ganz konkret, wenn es darum geht, eine Perspektive zu gewinnen für das Studium. Und manchmal auch, wenn es um Lebens- und Glaubensfragen geht.

Ein Raum für Gott öffnen

In meiner Arbeit geht es sicher nicht um Mission. Es geht nicht darum, Menschen von der Richtigkeit des christlichen Glaubens zu überzeugen und damit wieder die Kirchenbänke zu füllen, indem wir alle taufen, sobald sie unser Büro betreten. Es geht zuerst einmal darum, Räume zu eröffnen, in denen man einfach mal etwas loswerden und sich von der Seele reden kann, in denen sich Perspektiven auftun, in denen neue Hoffnung entsteht. Hoffnung und Mut, dem Leben zu trauen. Als Christen glauben wir, dass diese Hoffnung einen guten Grund hat, einen festen Boden: Gott selbst, der trägt und verlässlich ist. Von dem wir ohne Bedingung oder vorher erbrachter Leistung angenommen sind. Das gibt mir die Richtung vor, mit der ich den Studierenden am Campus begegne.

Wenn das gelingt, dann könnte etwas geschehen, was am Ende der Erzählung mit dem Äthiopier geschieht: Er geht weiter auf seinem Weg. Philippus verschwindet. Seelsorge heißt für mich: Menschen Orientierung zu geben für ihren eigenen Weg, Räume zu öffnen für eigene Entdeckungen. Nicht überstülpen, was ich an Vorstellungen für ein gelingendes Leben habe, sondern ermutigen, den eigenen Fähigkeiten und Entscheidungen zu trauen. So entstehen Perspektiven, so entsteht Hoffnung und so entsteht Mut.

Am Ende geht der Äthiopier seinen Weg und freut sich. Für mich ist das eine Vision für meine Arbeit: dass es über dem gemeinsamen Fragen und Suchen und Verstehen zur Freude kommt; Freude, die Hoffnung gibt und die dazu motiviert, wieder die eigene Straße zu finden. Und Entdeckungen zu machen auf dem Weg, den wir für uns gewählt haben. Sich wieder neu dem Abenteuer Leben zu stellen und gespannt zu sein, was das Leben für uns bereithält.

ZUR PERSON
Ines Spitznagel (38) arbeitet als Hochschulseelsorgerin und Pastoralreferentin in Reutlingen. Sie hat in Tübingen und Rom studiert und ihre Ausbildung in Schwäbisch Gmünd absolviert.

 

TEXT: INES SPITZNAGEL