PFARRER IM RUHESTAND

Als Priester hat man keinen „klassischen“ Ruhestand, aber darüber ist Thomas Keller (78) froh, denn das verhindere auch, dass man versauert. Trotzdem verbringt er seinen Ruhestand im Seniorenzentrum St. Anna in Schwäbisch Gmünd. Warum er sich in der Kirche immer wie ein Fisch im Wasser fühlte, welche Wegstationen ihn prägten und was ihn bei aktuellen Diskussionen umtreibt, hat er für berufen mit uns im Interview geteilt.

Herr Keller, wie würden Sie Ihren Ruhestand in wenigen Worten beschreiben?
Ich bin froh, dass ich auch im Ruhestand immer noch eine feste Aufgabe habe. Ich halte jeden Sonntag im Kloster der Franziskanerinnen die Messe und habe – anders als in meiner Zeit als Gemeindepfarrer mit Team – für jeden Sonntag eine Predigt vorzubereiten. Das fordert mich schon. Ansonsten rücken natürlich die Verwandten und Freunde wieder mehr in den Blick.

Wie sieht denn Ihr Alltag aus?
Ich schreibe seit fünf Jahren eine Art Tagebuch. Wenn ich in dieser Woche hineinschaue, sind es lange nicht mehr so viele Termine wie früher. Am Sonntag nach dem „eigenen“ Gottesdienst schalte ich oft auch den Fernsehgottesdienst ein, um auch Predigthörer sein zu können. Ansonsten gibt es mehr Zeit für Besuche und Gespräche oder Telefonate und für Lektüre. Manchmal fahre ich mit dem Auto in die Natur, suche eine Bank und lese. Und die Hausarbeit braucht auch ihre Zeit …

Und was lesen Sie dann?
Unterschiedliches, gerne Theologisches und Biografisches, natürlich auch mit aktuellem Bezug, zum Beispiel das Buch „Weil Gott es so will“ von Philippa Rath. Ich muss ehrlich sagen, ich war am Anfang skeptisch im Blick auf Formulierungen wie: Die Frauen haben Anspruch auf das Amt. Niemand hat Anspruch auf das Amt – es ist ein Dienst. Aber als Mann hat man ja da leicht reden! Schade ist nur, dass mit „Ansprüchen“ das berechtigte Anliegen fast ein bisschen diskreditiert wird. Das Thema selbst ist auf jeden Fall unumgänglich gestellt und es muss sich da in unserer Kirche Entscheidendes ändern. Als ich dann das Buch zu Ende gelesen habe, haben mich jedenfalls die meisten Frauen, die hier geschrieben haben, überzeugt, weil sie den priesterlichen Dienst genau aus den Gründen machen wollen, aus denen ich ihn tue.

Sie sind in Ellwangen aufgewachsen. Wie ging es dann für Sie weiter?
Ellwangen ist natürlich meine Heimat, die mich maßgeblich geprägt hat: die Jugendarbeit, die Ministranten, die nahe Stiftskirche. Mein Bruder ist drei Jahre älter und hat denselben Weg eingeschlagen, da hat von ihm schon etwas auf mich abgefärbt. Ich weiß noch, wie der damalige Konviktsdirektor, als ich mit unserer Mutter meinen Bruder im Wilhelmsstift besucht habe, sagte: „Sie kommen dann auch, wenn es so weit ist.“ Und am Schluss war es dann so. Das Studium war sehr prägend. Zu dieser Zeit war Hans Küng in Tübingen, der mit seiner theologischen Weite uns den Horizont geöffnet hat. Allerdings war das Priesterseminar anfangs noch vom alten Stil der Priesteraszetik geprägt. Das hat nicht mehr zusammengepasst und da hat es dann auch ab und zu gebrodelt. Ich erinnere mich, wie die Einführung in die Tonsurliturgie einfach geplatzt ist …

Und in welchem Jahr war Ihre Priesterweihe?
1968. Dieses Jahr sagt ja schon einiges.

Hat diese, wie Sie sagen, „aufrührerische“ Zeit, in der Sie studiert haben und zum Priester geweiht wurden, Ihr Priesterbild beeinflusst?
Auf jeden Fall. Ich bin von Ellwangen in der Prägung des selbstverständlichen Katholizismus gekommen. Bloß als Beispiel: Als Oberministrant habe ich noch glühend die Meinung vertreten, dass nur Jungen ministrieren dürfen. Das hat sich dann aber bald durch das Studium und die Kollegenschaft mit meinen Mitbrüdern verändert. Alles zusammen hat bewirkt, dass wir wirklich den Impuls gespürt haben: Wir wollen mithelfen, etwas in Bewegung zu bringen. Das beflügelte.

Wie nehmen Sie die Veränderungen in der Kirche wahr, von Ihrer Studienzeit zur Situation heute?
Es liegt mir vom Naturell her eigentlich nicht, mich am Frust aufzuhalten. Es ist im Grund eine Selbstentmündigung zu sagen: Solange sich in den Strukturen nichts ändert, kann ich in diesem Kirchen-laden nicht sein. Wir können doch nicht so tun, als ob das Evangelium und alles, was in der Pastoral, in der Caritas und in den Gemeinden geschieht, nichts wert ist. Du kannst doch im Sinne des Evangeliums und im Sinne von Jesus Christus jetzt und heute leben! Und niemand hindert mich daran, außer ich selbst. Ich habe Kirche immer vor allem als Lebensstrom erlebt, in dem ich wie ein Fisch im Wasser schwimmen kann. Ich lebe selbst vom Beispiel, das mir andere geben, von dem, was andere mir sagen, mir zutrauen, von mir erwarten, ja, auch von ihrer Kritik.

Wie haben Sie die Zeit erlebt, in der das Berufsbild des Pastoralreferenten/der Pastoralreferentin eingeführt wurde?
Als der Beruf eingeführt wurde, habe ich mich gefragt, ob es vielleicht einen Theologiestudenten gibt, der Interesse für diesen Beruf zeigt und in unserem Team mitarbeiten will. Es gab einen und mit ihm wurde ich in Verbindung gesetzt, ein patenter und herzerfrischender Mensch. Ich dachte, solche Leute brauchen wir. Und seither habe ich immer mit Pastoralreferenten oder Gemeindereferenten zusammenarbeiten können. In den Gemeinden, in denen ich tätig war, waren wir immer eine bunt gemischte Truppe. Es motiviert einen ja selbst, wenn man miteinander arbeiten und zusammen reflektieren kann.

Im Rückblick auf all Ihre Jahre als Priester: Erinnern Sie sich an einen besonderen Herzensmoment?
Es gibt viele Begegnungen und Bilder, die mir bleiben. Aber so eine Art „Urbild“ für meinen Glauben und mein Zuhause in der Kirche verbindet sich mit einem Moment aus meiner Ministrantenzeit in der Ellwanger Stiftskirche: Ein kalter Wintermorgen im Februar, der alte wortkarge Mesner kommt etwas spät, schließt die Sakristei auf und schickt mich zum Läuten der „Susann“, die alle meine Kraft braucht, dann der Dienst am Altar, auf den gerade in diesen Minuten der Strahl der Morgensonne fällt. Der Glockenklang, die Stille, das fast Mystische – das war so ein Moment, der sich mir eingeprägt hat und mich mit der Kirche als eine Art „Heimat von einer anderen Welt“ verbindet.

Wie nehmen Sie die aktuellen Diskussionen um das Priesteramt wahr?
Das ist ein Thema, das mich sehr bewegt. Da hat sich bei mir auch im Laufe der Zeit etwas verändert. Im Priesterseminar hat man uns damals noch ein recht abgehobenes Priesterbild eingetrichtert. Trotzdem war es damals klar, dass das nicht unsere Vorstellung vom Priestersein ist. Gegen eine sakrale Überhöhung steht im Zentrum der „Dienst an der Einheit“. Der Priester ist nicht der „heilige Mann“, der durch seine geweihten Hände Christus präsent „macht“. Er soll im Auftrag Christi Gemeinde sammeln und aufbauen. Darum ist es auch seine Aufgabe, die Eucharistie zu leiten, weil es das Sakrament der Einheit ist, der Einheit mit Christus und der Einheit untereinander.

Haben Sie Tipps für die jüngere Generation aus Ihrem Erfahrungsschatz?
Ich bin immer vorsichtig mit Ratschlägen, weil es auch „Schläge“ sind. Auf jeden Fall sollte man sich nicht an Äußerlichkeiten aufhalten. Kirche besteht aus Menschen, und wo Menschen sind, brauchts auch eine gewisse Frustrationstoleranz. Aber was gibt es Spannenderes und Motivierenderes, als mit anderen zusammen im Sinn des Evangeliums Gemeinschaft zu bauen, also das, was mir Perspektive für mein Leben gibt, mit anderen zu teilen! Entscheidend ist die Freude an Christus und am Evangelium und das Interesse für Menschen. Und letztlich ist meine Erfahrung: Die halbe Miete in der Pastoral ist die Freundlichkeit, mit der ich auf andere zugehe.

TEXT: FRANZISKA MOOSMANN (22)