Er sieht den Menschen und deren Lebensgeschichte, nicht die Straftat. Harald Prießnitz ist Gefängnisseelsorger aus Leidenschaft. Er möchte den Menschen auf Augenhöhe begegnen und die klassischen Felder der Seelsorge verlassen. Im Interview erzählt er, welche Rolle der Glaube im Gefängnis spielt und was das Besondere an seiner Seelsorgertätigkeit dort ist.

Herr Prießnitz, Hohenasperg ist zugleich ein Justizvollzugskrankenhaus und eine sozialtherapeutische Anstalt, wie unterscheidet sich dies von anderen Haftarten?
Im Justizvollzugskrankenhaus sind Inhaftierte mit Drogen- oder gesundheitlichen Problemen, psychischer oder somatischer Art, untergebracht. Dadurch haben wir eine einzigartige Situation, da alle Haftarten vertreten sind und es keine Trennung von Jugendstrafvollzug oder Frauen- und Männerstrafvollzug gibt. Außerdem haben wir noch die sozialtherapeutische Anstalt, in der Gewalt- oder Sexualstraftäter eine Therapie machen. Das kann zum Beispiel eine Traumatherapie sein, wodurch sich die Gefangenen dort auch mit ihrer eigenen Biographie auseinandersetzen müssen, in der sie selbst unter anderem Gewalt erfahren haben. In diesem Bereich arbeite ich gemeinsam mit meiner evangelischen Kollegin Henrike Schmidt, die neben mir auch als Seelsorgerin für diesen Bereich zuständig ist.

Zu welchem Zeitpunkt stand für Sie fest, dass Gefängnisseelsorge ein spannendes Feld für Sie sein könnte?
Schon früh hat sich abgezeichnet, dass ich in eine soziale Richtung möchte. In der Gemeinde engagierte ich mich als Ministrant, KJGler und in der Nachbarschaftshilfe. Dabei weckte nicht nur der Religionsunterricht mein Interesse, sondern auch ein älterer Gruppenleiter, der Theologie studieren wollte und mit mir über diese Themen sprach. Diese Umstände und eine gemeinsame Predigt weckten in mir schon relativ früh den Wunsch, in einem pastoralen Berufsfeld zu arbeiten. Das Sprachenjahr im Ambrosianum in Ehingen hat den Studienwunsch noch verfestigt, weshalb ich angefangen habe, Theologie und Erziehungswissenschaften in Tübingen zu studieren.
Im Studium habe ich dann bereits eine Art der Berufung zur Gefängnisseelsorge gespürt und schloss mich der Gruppe Kompass e. V. an. Das ist auch heute noch eine Gruppe Studierender, die über Angebote mit den Gefangenen ins Gespräch kommen. Damals haben wir Theaterangebote in der Untersuchungshaft angeboten und ich konnte neben Gruppen- und Einzelangeboten für die Insassen auch Vorträge organisieren, bei denen ich über die Lebensrealität im Gefängnis aufklärte. Zudem habe ich während meines Studiums zwei Monate in der Gefängnisseelsorge im Jugendstrafvollzug in Schwäbisch Hall gearbeitet, wodurch der Wunsch, als Gefängnisseelsorger zu arbeiten, immer schon präsent war.

Sie hatten das Ziel schon vor Augen, doch wie sind Sie zu Ihrer Stelle am Hohenasperg gekommen?
Nach meiner Ausbildung zum Pastoralreferenten in Bietigheim-Bissingen waren meine Schwerpunkte neben der pastoralen Tätigkeit die Schulpastoral und Religionslehre am Gymnasium. Und schon damals stand ich im Kontakt zu meinem jetzigen Arbeits- platz am Hohenasperg. Denn ich hatte noch die Möglichkeit die Gottesdienste im Gefängnis in Hohenasperg mit meinen Firmgruppen gestalten zu können, was heute nicht mehr möglich ist. Dadurch hatte ich Kontakt zu meinem Vorgänger, wodurch früh der Wunsch in mir entstand, dort selbst einmal als Seelsorger zu arbeiten. Ich habe meinen Vorgänger auch mit Inhaftierten an die Schule geholt, der dann den Schüler*innen über den Gefängnisalltag berichtete. Ein Jahr bevor mein Vorgänger dann in den Ruhestand ging, hospitierte ich für eine Woche am Hohenasperg, bevor ich mich bewarb und heute mit 100 % als Gefängnisseelsorger dort arbeite.

Sie waren lange an der Schule tätig und hatten damals bereits Kontakt zu der Gefängnisseelsorge. Haben Sie bei Ihrer heutigen Arbeit im Gefängnis immer noch eine Zusammenarbeit mit der Schule?
Ja, ich sehe Öffentlichkeitsarbeit als Teil meiner Aufgabe und komme mit einzelnen Inhaftierten in den Religionsunterricht, um über die Lebensrealität im Gefängnis zu berichten. Solche Begegnungen können auch präventiv wirken, weshalb ich mit Streetworkern zusammen arbeite, die mit Jugendlichen arbeiten, die gefährdet sind, selbst kriminell zu werden. Schüler*innen oder Jugendliche sind von diesen Begegnungen aber auch häufig fasziniert und es ist schwierig, ihnen ein realistisches Bild über das Leben im Gefängnis zu geben, ohne eine zu große Faszination auszulösen. Deshalb berichten wir zum Beispiel davon, dass Freundschaften im Strafvollzug eher nicht möglich sind und Insassen immer aufpassen müssen nicht beklaut zu werden.

Es scheint so, als hätten Sie schon immer eine Verbindung zu dem Arbeitsfeld im Gefängnis gehabt. Was macht diesen eher schweren Arbeitsbereich so besonders für Sie?
Ich habe das Gefühl, dass es der Arbeitsbereich ist, wo ich hingehöre. Das ist schon ein bisschen wie ein Berufungserlebnis, aber ich merke, dass es der Ort, ist wo ich hingehöre. Ich finde meine Arbeit äußerst interessant, was nicht alle Menschen verstehen. Ich finde es aber spannend, da mich die Lebensgeschichten der Menschen interessieren und ich auch die Entwicklungen spannend finde. Denn als Seelsorger werden uns auch die schönen Erlebnisse anvertraut und mit uns geteilt. Und durch die unterschiedlichen Formate, die wir haben, wird die Arbeit nicht langweilig. Wir haben zum Beispiel auch eine Zusammenarbeit mit Studierenden und führten mit ihnen eine Diskussionsrunde am Hohenasperg. Die Möglichkeit, verschiedene Dinge auszuprobieren, auf die ich Lust habe und die ich sinnvoll finde, das ist sehr schön. Dadurch habe ich ein vielfältiges und interessantes Arbeitsfeld mit vielen Freiheiten. Natürlich glaube ich auch, dass ich den Menschen helfen kann mit meiner Arbeit, auch wenn das nicht im Vordergrund steht. Es ist eher wie ein Gefühl, das wie eine Berufung für mich ist, und nach fünf Jahren kann ich sagen, dass ich mich darin nicht getäuscht habe und froh über die Chance bin, in diesem Bereich arbeiten zu können.

Gibt es Vorteile von Gefängnisseelsorge gegenüber anderen Berufsfeldern im Gefängnis?
Als Seelsorger wird mir mehr anvertraut, da durch die Schweigepflicht niemand befürchten muss, dass das Anvertraute in einer Akte landen oder zum persönlichen Nachteil werden könnte. Bei Psycholog*innen wissen die Inhaftierten, dass die Länge ihrer Haftstrafe von psychologischen Gutachten abhängt und dass diese aus der Grundlage der gemeinsamen Gespräche entsteht. Durch meine Schweigepflicht bekomme ich einen Vertrauensvorschuss. Dieses Vertrauen wird stärker, wenn mein Gegenüber spürt, dass ich den Menschen sehe und nicht nur den Straftäter oder die Straftäterin. Wenn Inhaftierte merken, dass ich an ihnen als Mensch interessiert bin, schafft das ein größeres Vertrauen. Ich lese auch selten Akten … Ich bin für die Menschen da, so wie sie sind, und arbeite mit dem, was sie an Gefühlen, Hoffnungen, Sehnsüchten mitbringen.

Welche Kompetenzen brauchen Gefängnisseelsorger*innen bei ihrer schwierigen Arbeit?
Es geht nicht spurlos an einem vorbei, wenn Menschen von ihren Straftaten berichten und dabei natürlich auch das Leid sichtbar wird, das sie anderen Menschen angetan haben. Daher gehört es auch zum Job, gut nach sich selber zu schauen, die eigenen Grenzen zu kennen und auch Fälle abzugeben, wenn ich an meine Grenzen stoße. Das Bewusstsein für die eigene Belastung und Belastungsgrenze ist daher sehr wichtig. Dafür braucht es nicht nur Supervision, sondern auch einen geerdeten Glauben, der von der Ebenbildlichkeit des Menschen ausgeht. Ich versuche mir dies immer wieder vor Augen zu führen, dass jeder Mensch von Gott geliebt ist und darauf zu achten, dass sich mein Menschenbild nicht ins Negative verändert.

Welche Themen beschäftigen die Menschen im Gefängnis?
Das Thema der Schuld beschäftigt die Menschen besonders stark, da sie schuldig sind und Schuld auf sich geladen haben. Damit geht auch immer ein Verschulden gegenüber der eigenen Familie und dem eigenen Leben einher. Die Frage, wie sie ihr Leben so kaputt machen konnten, spielt dabei immer eine Rolle. Wie konnte ich einem Menschen so etwas antun? Manchmal müssen sie auch erstmals Mitgefühl lernen und es stellt sich immer wieder die Frage, was man seinen Angehörigen angetan hat.
Es ist ein dick gefülltes Bündel aus der Straftat, der Situation, dass man im Gefängnis ist und dann noch zusätzlich eine psychische Erkrankung oder Drogenabhängigkeit hat oder sich in der sozialtherapeutischen Anstalt mit seinem eigenen schwierigen Leben auseinandersetzen muss.

Welche Rolle spielt der Glaube im Gefängnis?
Manche Menschen finden erst im Gefängnis zum Glauben, da sie sich Fragen stellen wie: Kann Gott mir verzeihen? Ist das überhaupt möglich, nach dem, was ich gemacht habe? Verurteilt Gott mich? Das Gleichnis vom verlorenen Sohn ist teilweise sehr schwierig für sie zu verstehen, da es nicht der Art und Weise entspricht, wie Menschen ihnen begegnen. Kann mir verziehen werden? Von Gott, von meinen Angehörigen und kann ich mir überhaupt selbst verzeihen? Diese Fragen stellen sich Menschen im Gefängnis immer wieder. Im Gottesdienst erlebe ich immer wieder, dass der Glaube als hoffnungsstiftend und als Kraftquelle erlebt wird. Wir haben zum Beispiel ein Kerzenritual, bei dem man bei meditativer Musik Kerzen vor Ikonen aufstellen kann und alles, was einen belastet, abgelegt werden kann. Und die inhaltliche Zusage, dass Gott trotz allem zu den Menschen hält, das ist für manche Menschen sehr wichtig. Ganz besonders ist auch die Möglichkeit, dass man beim Gottesdienst anderen Menschen begegnen kann.

Was würden Sie Menschen, die gerade auf dem Weg in einen kirchlichen Beruf sind, mitgeben wollen?
Ich würde ihnen mitgeben, dass es wichtig ist, sich unterschiedlichen Lebenssituationen auszusetzen und praktische Erfahrungen zu sammeln. Wie bin ich als Mensch da? Und wir müssen vielleicht mit Hinblick auf die Entwicklung von Kirche die klassischen Felder der Seelsorge verlassen. Wo können wir den Menschen auf Augenhöhe begegnen? Bei einer Predigt findet kaum Begegnung statt, weshalb es stärker darum gehen sollte, die Menschen zu begleiten an Orten, die mit Kirche zunächst nichts zu tun haben. Ich wünsche den Menschen, dass sie für zwischenmenschliche Begegnungen auch außerhalb der klassisch kirchlichen Orte offen sind.

Welche Orte sind noch zu wenig im Blick?
Es liegt meiner Meinung nach noch viel zu wenig Augenmerk bei der Schulpastoral. Das, was ich an Schulpastoral gemacht habe, das war alles zusätzlich und wir erreichen junge Menschen vor allem in Schulen. Vor allem werden die Religionslehrer*innen immer weniger. Kirche sollte dabei auch mit der Form der Seelsorge an Schulen präsent sein und dafür bräuchte es mehr Stunden, die nicht nur mit ehrenamtlichen Engagement gefüllt, sondern fester Bestandteil der pastoralen Arbeit sein sollten.

ZUR PERSON
Harald Prießnitz (55) ist seit 2018 katholischer Gefängnisseelsorger in Hohenasperg. Dort befindet sich neben dem Justizvollzugskrankenhaus auch die Sozialtherapeutische Anstalt Baden-Württemberg.

TEXT: ISABELLA REISCH (22)