Was bringt mich Jesus näher?

 

Seit dem letzten Weihnachten hängt ein einzelnes Kalenderblatt an der Wand meines Arbeitszimmers. Damals waren die Predigten für die kommenden Feiertage alle schon vorbereitet, als ich dachte, diese Worte von Henri Nouwen könnten doch mal ein Aufhänger sein für eine Weihnachtspredigt.
„Du kommst zu mir als kleines, ohnmächtiges, in der Fremde geborenes Kind. Du führst in deinem eigenen Land das Leben eines Fremden. Ich frage mich, ob mich das tiefe Gefühl der Heimatlosigkeit dir nicht näher bringt als mein gelegentliches Gefühl von Geborgenheit.“

Das Thema „Fremde – Geborgenheit – Heimat“ hatte mich unmittelbar emotional angesprochen, wie ich mich gut erinnere, und so hängte ich das Kalenderblatt ungewöhnlicherweise an die Wand, um es ja nicht zu verlegen und dann zu vergessen.

Als ich den Text schrieb, den Sie jetzt gerade lesen, war gerade das Geburtsfest Johannes des Täufers – irgendwie auch passend, da er ja der „Vorläufer“ des „Fremden“, Jesus, war – also war es gerade Sommer. Die erste Hälfte des Jahres war gelaufen, aber es war noch nicht absehbar, was die zweite bringen würde … Aber dass es in dem Text, den Sie jetzt lesen, ganz gut um „Fremde – Geborgenheit – Heimat“ gehen könnte, das hatte sich immerhin schon abgezeichnet.

2022 ist das Jahr eines Krieges auf europäischem Boden. Menschen werden zu Fremden, vor allem sind es Frauen, die mit ihren Kindern nach Polen und bis zu uns fliehen. Anderen Menschen werden die Häuser und Wohnungen zerbombt, sodass sie in andere Regionen der Ukraine fliehen müssen. Fremd und heimatlos macht Krieg die Menschen.

2022 ist das Jahr der Veröffentlichung weiterer Studien zu sexuellem Missbrauch in deutschen Bistümern. Das Entsetzen ist jeweils das Gleiche – bei mir zumindest. Gläubige Katholik*innen empfinden das immer mehr so, wie wenn ihnen die Heimat „Kirche“ unter den Füßen weggezogen wird und sie sich plötzlich fremd fühlen, als Fremde im (bisher) eigenen Land. Verstärkt wird dieses Fremdheitsgefühl, das bei vielen dann zum Kirchenaustritt führt, durch die vielen anderen Verkrümmungen des Evangeliums und die Verknotungen im Leben der Kirche, die wir so im Laufe der Zeit immer mehr zu sehen bekommen. Da muss ich gestehen: ein Fremdheitsgefühl stellt sich da auch bei mir bisweilen ein.

2022 frage ich mich aber auch: Wie geborgen oder eben fremd fühle ich mich denn in meinem eigenen Leben, meinen Lebensumständen, in meinen Beziehungen, an meinem Arbeitsplatz und in meinem Wohnort? Es ist ja nicht so, dass da immer alles gleichbleibend „passen“ würde. Schließlich verändere ich mich durch die Erfahrungen, die ich mache, und durch die Begegnungen, die mir geschenkt sind. Und es verändert sich meine Umgebung: die Menschen, die Strukturen und Aufgaben, die Erwartungen an mich und das Zutrauen, das mir entgegengebracht wird oder eben nicht.

„Du kommst zu mir als kleines, ohnmächtiges, in der Fremde geborenes Kind. Du führst in deinem eigenen Land das Leben eines Fremden.“ Nouwens Worte lassen den Johannesprolog in mir anklingen: „Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf“ (Joh 1,11). Oder das Gebet des scheidenden Jesus: „Sie sind nicht von der Welt, wie auch ich nicht von der Welt bin“ (Joh 17,16). Da klingt Jesu und unser Fremdsein in dieser Welt doch an. Im johanneischen Rückblick zeigt sich, dass Jesus und seine Botschaft Ablehnung erfahren haben und sozusagen Fremde geblieben sind in dieser Welt. Aber das begegnet uns ja auch an vielen Stellen in allen vier Evangelien: Jesus wird missverstanden, manchmal auch absichtlich. Er kann mit seiner Botschaft von Gottes Barmherzigkeit und Güte bei den Leuten nicht landen. Er sieht sich ungerechtfertigten oder völlig überzogenen Vorwürfen ausgesetzt. Und manchmal klingt in seinen Worten sein Fremdsein in der Welt auch an, zum Beispiel als er in seiner Heimatstadt abgelehnt wird: „Nirgends ist ein Prophet ohne Ansehen außer in seiner Heimat und in seiner Familie“ (Mt 13,57). Oder: „Meine Mutter und meine Brüder sind die, die das Wort Gottes hören und tun“ (Lk 8,21).

Ja, es ist schon so, dass Jesus nicht nur in der Fremde geboren wurde, nach biblischer Auskunft ja in Bethlehem statt in Nazareth, also auf Reisen sozusagen, sondern, dass er auch in seinem eigenen Land, in dieser Welt, ein Fremder geblieben ist. Bis heute.
Damit aber ist mir Jesus so nahe, spüre ich. Womit ich ja die noch überlegende Frage von Henri Nouwen schon beantwortet habe: „Ich frage mich, ob mich das tiefe Gefühl der Heimatlosigkeit dir nicht näher bringt, als mein gelegentliches Gefühl von Geborgenheit.“ Jesus ist ein Fremder geblieben in dieser Welt und ich trage dieses tiefe Gefühl der Fremde und „Heimatlosigkeit“ auch in mir. Das schafft die Nähe mit ihm, die ich mir im geistlichen Leben doch immer so sehr wünsche; das schafft eine Solidarität zwischen Jesus und mir und zwischen uns beiden und so vielen Menschen auf dieser Welt. Oder sind es am Ende nicht alle Menschen, die irgendwie dieses tiefe Gefühl der Fremde und der Heimatlosigkeit in sich spüren können?

Im Exerzitienbuch des Ignatius von Loyola und in der ignatianischen Spiritualität geht es oft darum, das eigene Leben, Empfinden und Fühlen mit Jesus zusammen anzuschauen und mit ihm darüber ins Gespräch zu kommen. Dabei darf ich ihm auch Fragen stellen: Wo bist du in meinem Leben, wie stehst du zu meinem Empfinden und Fühlen? Bist du solidarisch an meiner Seite? Willst du mir einen Ausweg und eine Perspektive zeigen? Oder fragst du mich an diesem oder jenem Punkt herausfordernd an? Ich empfinde dieses Fragen im Gebet als ein Ausstrecken nach seiner wohlwollenden Solidarität und seiner Nähe, die mich schon oft von meinen Gedanken und Plänen abgebracht und für neue Perspektiven geöffnet haben.

Vor allem aber helfen mir die so empfundene Nähe und Solidarität des Herrn im Alltag immer wieder, belastende Situationen zu bewältigen, Herausforderungen anzunehmen, Spannungen auszuhalten und sie dann ins Positive zu wenden. Oder eben auch im tiefen Gefühl der Heimatlosigkeit eine Geborgenheit bei dem zu finden, der in der Fremde geboren wurde und sein ganzes Leben hindurch ein Fremder im eigenen Land geblieben ist.
Im Zugehen auf das kommende Weihnachtsfest könnte es in diesem Jahr doch mal eine ganz passende und fruchtbare Übung sein, dem Fremdheitsgefühl, das sich vielleicht immer wieder einstellt, nicht auszuweichen, sondern sich ihm zu stellen und darin dem Herrn näher zu sein als im gelegentlichen Gefühl von Geborgenheit.

Udo Hermann (50),
Spiritual im Kloster Untermachtal,
Studium in Tübingen und Rom,
Geistlicher Begleiter und Exerzitienbegleiter