Und, was machst du so nach dem Abi?“ Diese Frage habe ich als 18-jährige hundertfach gestellt bekommen. Meine Antwort war anfangs: „Ich gehe als Missionarin auf Zeit für ein Jahr nach Bolivien.“ Die Reaktionen waren selten positiv. Meist folgte verständnisloses Schweigen, ein Stirnrunzeln, sogar Mitschüler*innen, die mich lange kannten, haben mich angeschaut, als müssten sie mich nochmal ganz neu einschätzen. Manchmal gab es ehrlich interessierte oder auch kritisch-vorwurfsvolle Nachfragen, doch schnell habe ich gelernt, dass „Missionar*in auf Zeit“ ein Smalltalk-Killer ist. Meine Antwort lautete seitdem: „Ich mache einen kirchlichen Freiwilligendienst.“ Bei aller Skepsis, die trotzdem bei dem Wörtchen „kirchlich“ blieb, die meisten konnten das einordnen und das Gespräch ging weiter. Auch die Erklärung, dass ich im Endeffekt nichts anderes mache als „normale“ Freiwillige auch, nur eben aus einer spezifisch christlichen Motivation heraus, hat bei der Verständigung geholfen.

Ich habe mich in dem kleinen Andendorf Sopachuy in Bolivien auch viel in der Kirchengemeinde eingebracht, aber im Projekt selbst waren meine Hauptaufgaben: Hausaufgabenbetreuung und Freizeitgestaltung für Kinder der 1.–6. Klasse sowie in der Küche, im Garten und beim Putzen mitanzupacken. Typische Freiwilligenarbeit also, nichts, was normalerweise ein Stirnrunzeln provoziert. Aber „Mission“ ist eindeutig ein Stein des Anstoßes, verständlicherweise! Man kann sich die Bilder vorstellen, die beim Wort „Mission“ in den Köpfen aufpoppen: ein Mann in Kutte mit erhobenem Kreuz, die Bibel unterm Arm, Soldaten mit einer Hand am Schwertgriff und die angstvoll aufgerissenen Augen der Menschen, die bekehrt werden sollen. Und auch wenn das ein überzeichnetes Bild ist, dahinter steckt eine harte Wahrheit. Viel zu oft haben Kirche und Kolonialherren sich die Hand gereicht, um zusammen an ihr unheilvolles Werk zu gehen. Kulturen wurden miss- achtet und zerstört, weil das Christentum nur in Kombipackung mit der europäischen Kultur exportiert wurde. Statt der frohen Botschaft wurde Leid verbreitet. Die Konnotationen sind negativ, selbst wenn man nur an die Mission von freundlich lächelnden Menschen an der Haustüre denkt, die fragen, ob man mit ihnen über Gott reden wolle. Wie kann ich mich da einreihen wollen?

Was heißt Mission heute? Darauf gibt es tausendundeine Antwort. Das Programm MaZ (Missionar* in auf Zeit) versteht es als gelebte Solidarität und die Gestaltung der Einen Welt, in der alle geschwisterlich zusammenleben. Das klingt sofort ganz anders, viel schöner! Ich selbst habe den Eindruck gewonnen, dass die Theologie und die Ordensgemeinschaften, Mission „wiedergutmachen“ wollen durch viel gelebte Solidarität, geschichtliche Aufarbeitung, befreiungstheologische Grundgedanken … Und auch ich versuche Mission neu zu verstehen mit der Frage: Was kann es heute für mich ganz persönlich bedeuten, „gesendet“ zu sein? So wird Mission plötzlich zu einem spirituellen Thema, bei dem ich auf meine Gottesbeziehung reflektiere. Und dennoch, bei mir löst es weiterhin ein ungutes Gefühl in der Magengrube aus, mich als Missionarin zu bezeichnen. Hat es nicht nach wie vor einen starken Beigeschmack, wenn ich als weiße Europäerin als Missio- narin nach Südamerika gehe, wenn zeitgleich die Strukturen es Reverse-Freiwilligen aus Südamerika viel schwerer machen, sich in Deutschland für Projekte erfolgreich zu bewerben?

 

Völlig überrascht war ich von der positiven Reaktion der bolivianischen Jugendlichen, als ich mich als Missionarin vorgestellt habe. Die Jugendgruppe in Sopachuy hat mich freudig als Mit-Missionarin aufgenommen und wir haben zusammen Treffen abgehalten und Aktionen gestartet. Die Gruppe nennt sich selbstbewusst „jóvenes misioneros“ (junge Missionare), weil sie sich als gesendet versteht, in ihrem Umfeld bewusst christlich zu leben, um so lebendiges Glaubenszeugnis zu sein. Wie? An Möglichkeiten mangelt es nirgendwo! So habe ich gezeigt bekommen, was Frère Roger meint mit: „Lebe das, was du vom Evangelium verstanden hast. Und wenn es noch so wenig ist. Aber lebe es.“ Es wurden mir auch die Augen dafür geöffnet, dass die katholische Kirche vielfältiger und reicher ist als gedacht, weil sie sich heute offener zeigt für andere Kulturen und deren religiöse Ausdrucksformen. Die Gemeinde von Sopachuy hat mir geholfen, Glauben als etwas zu begreifen, das sich nicht nur zwischen Gott und Mensch abspielt, sondern das einen zu den Mitmenschen führt und direkt ins Leben hinein.
Wieder in Deutschland habe ich begonnen, drei tote Sprachen für das Theologiestudium zu lernen, und habe mich gefragt, was von meiner MaZ-Sendung bleibt. Der Kulturschock, den ich bei meiner Rückkehr hatte, hat mich dazu bewegt, mein MaZ-Jahr in einer Art inneren Schatzkiste zu konservieren. Noch heute kommen mir meine Erinnerungen aus Bolivien klarer, intensiver und farbiger vor, als ob sie einfach zu weit von meinem deutschen alltäglichen Leben abgehoben wären, um sich nahtlos einzufügen. Wie soll ich mich noch als gesendet und berufen verstehen, wenn ich am Schreibtisch sitze? Ich deute meine Passion für die Theologie auch als Berufung, aber es ist mir zu flach, mein Christsein nur mit Büchern und Gebet zu füllen. Denn wo blieben sonst die Menschen, die Nächstenliebe und das Leben? Es ist aber im Studienalltag nicht einfach daraus kein „Entweder-oder“, sondern ein „Sowohl-als-auch“ werden zu lassen. Ich bin sehr dankbar, dass ich von meinen Mitmenschen in Bolivien so viel über gelebten Glauben lernen konnte, sonst würde ich mich hier nicht einmal um ein „Sowohl-als-auch“ bemühen.
Gesendet und berufen zu sein heißt für mich, das Evangelium im eigenen Leben keine Sackgasse sein zu lassen. Froh kann eine Botschaft nur sein, wenn sie lebendig bleibt und nicht von bloßen Buchstaben, kleingeistiger Kirchenpolitik oder gleichgültiger Gewohnheit erdrückt wird. Froh und freimütig kann ich eine Botschaft nur leben, wenn ich sie kritisch reflektiere, wenn ich die Angaben der Inhaltsstoffe auf der Verpackung mit dem Inhalt abgleiche. Als MaZlerin will ich es mir nicht erlauben, bei aller Theologie die Menschen zu vergessen. Zum Glück habe ich beim Aussendungsgottesdienst in Steyl einen Ring bekommen, der mich erinnert, im Alltagsleben, beim Beten und beim Arbeiten.

INFOBOX
Das Programm Missionar*in auf Zeit (MaZ) ermöglicht seit 1980 jungen Erwachsenen, sich für ein Jahr in einem Projekt zu engagieren, gemäß dem Motto: Mitleben, Mitbeten, Mitarbeiten. Die Vorbereitung und Begleitung der Freiwilligen sowie die Projekte vor Ort werden hauptsächlich von Ordensgemeinschaften getragen.

 

TEXT: VALERIE STENZEL (22)