Spirituelle Erfahrungen werden heute vermehrt außerhalb des kirchlichen und gemeindlichen Lebens gesucht. Doch auch Seelsorgerinnen und Seelsorger können die Begegnung mit dem Unbegreiflichen, mit Gott, ermöglichen. Was kann ihnen im Sinne eines geistlichen Mentorats mitgegeben werden? 

„Es gibt so viele geistliche Wege, wie es Menschen gibt“ – dieser Satz stimmt für mich, denn in der geistlichen Begleitung gibt es kein Patentrezept. Es gibt nicht die eine Frömmigkeit und auch nicht die eine für alle taugliche Praxis des Gebets oder der Meditation. Neben dieser Verschiedenheit der individuellen Wege gibt es aber auch eine Gemeinsamkeit. Stets geht es aufs Neue darum, einen Menschen überhaupt zum Gehen eines geistlichen Weges zu ermutigen und ihn darin zu begleiten. Mit jedem Säugling erscheint ein Neu-Anfänger oder eine Neu-Anfängerin auf der Welt und jeder Mensch muss selbst mit seinem Leben eine Antwort auf die Frage „Wer bist du?“ geben (Hannah Arendt). Aufgrund dieser Situation gibt es keinen allgemeinen Fortschritt im Gehen geistlicher Wege. Es gibt lediglich eine „geistige Großwetterlage“, die das Gehen eines solchen Weges eher erleichtert oder erschwert.

Die derzeitige Großwetterlage scheint mir immer noch von dem gekennzeichnet zu sein, was Karl Rahner bereits 1966 in seinem berühmten Aufsatz „Frömmigkeit früher und heute“ skizziert hatte:

„Der Fromme von morgen wird ein ‚Mystiker‘ sein, einer, der etwas ‚erfahren‘ hat, oder er wird nicht mehr sein, weil die Frömmigkeit von morgen nicht mehr durch die im Voraus zu einer personalen Erfahrung und Entscheidung einstimmige, selbstverständliche öffentliche Überzeugung […] aller mitgetragen wird […]. Die Mystagogie muss von der angenommenen Erfahrung der Verwiesenheit des Menschen auf Gott hin das richtige ‚Gottesbild‘ vermitteln, die Erfahrung, dass des Menschen Grund der Abgrund ist: dass Gott wesentlich der Unbegreifliche ist; dass seine Unbegreiflichkeit wächst und nicht abnimmt, je richtiger Gott verstanden wird, je näher uns seine ihn selbst mitteilende Liebe kommt.“ 1

An dieser Ausgangssituation, dass Menschen in ihren Erfahrungen und Entscheidungen nicht mehr durch selbstverständliche gemeinsame Glaubensüberzeugungen mitgetragen werden, hat sich nichts geändert. Im Gegenteil: Die Erosion der Volkskirche und der damit einhergehende Verlust von selbstverständlich tradierten öffentlichen Überzeugungen sind heute noch deutlicher sichtbar als damals.

Verunsicherung macht sich auch unter den sogenannten praktizierenden Gläubigen breit. Denn die ebenfalls gegenwärtig apostrophierte „Renaissance der Spiritualität“ scheint sich – wenn überhaupt – abseits oder neben dem Hauptstrom des kirchlichen und gemeindlichen Lebens zu ereignen. Was also kann angehenden Seelsorgerinnen und Seelsorgern, kann angehenden Theologinnen und Theologen im Sinne eines geistlichen Mentorats mitgegeben werden?

Im Kern geht es für mich darum, ausgehend von der eigenen geistlichen Erfahrung, Schritt für Schritt mystagogiefähig zu werden, das heißt fähig zu werden, für andere und mit anderen Räume und Zeiten zu eröffnen, in denen diese mit dem Unbegreiflichen, mit Gott, in Berührung kommen können.Doch was ist dieses „etwas“, das der Mystiker erfahren hat? Für mich hat es Carl Friedrich von Weizsäcker treffend beschrieben:

„Eine Grunderfahrung der Mystik […] ist die Erfahrung der Einheit. Was ‚eins‘ ist, kann man letzten Endes nicht mehr fragen; denn dann würde man ein Zweites hinzubringen, nämlich die Erklärung, was es ist.“2

Diese mystische Grunderfahrung scheint mir ganz in der Nähe dessen zu sein, was Rahner meint, wenn er schreibt, dass Gott wesentlich der Unbegreifliche sei. Viele Menschen kennen Erfahrungen des momenthaften Einsseins. Dies kann sich beim Hören eines Musikstücks, beim Betrachten eines schlafenden Kindes oder beim Erleben eines Naturschauspiels ebenso einstellen wie während einer gottesdienstlichen Feier oder eines unter die Haut gehenden Gesprächs mit einem Freund. Doch nicht jeder Mensch wird diese Erfahrungen mit „Gott“ in Verbindung bringen und leider oft noch weniger mit „dem Gott“, den man aus der kirchlichen Verkündigung zu kennen meint.

Doch die geistliche Tradition der Kirche war sich dieses Weges hin zur Einheit stets bewusst. Dem Vereinigungsweg (via unitiva) gehen in dieser Tradition der Reinigungs- (via purgativa) und der Erleuchtungsweg (via illuminativa) voran. Am Anfang des Weges zu Gott steht der Reinigungsweg. Auf ihm wird der Wille des Gottsuchenden durch Begründungen zur Umkehr und Lebensänderung motiviert. Der Mensch reflektiert über sein Leben, fragt sich, was er mit seinem Leben erreichen will und welche Folgen seine Entscheidungen für sein Leben haben. Diese Betrachtungen führen ihn zu einer Ausrichtung seines Lebens am Beispiel Jesu. Dieser Weg ist auch gemeint, wenn Jesus auf die Frage eines Mannes nach dem ewigen Leben antwortet, dass es zunächst um das Halten der Gebote gehe (vgl. Mt 19,16–30 par). Die nächste Etappe des Weges ist der Erleuchtungsweg. Auf ihm geht es um eine Ergänzung der Vernunftarbeit durch ein einfühlsameres inneres Gespür.

„Übersetzt in unsere Sprache könnte man sagen, dass sein Ziel die Entwicklung unseres Gefühlslebens und unseres Verhaltens ist, die uns menschlicher und damit christusähnlicher macht.“3 (Franz Jalics)

Beide Wege können hinsichtlich des Gebets als vorkontemplativ bezeichnet werden. Erst mit der via illuminativa, dem Erleuchtungsweg, beginnt die Wegstrecke der Mystik oder der Kontemplation. Und auf dieser Wegstrecke geschieht etwas völlig Neues: Nicht der Mensch, sondern Gott übernimmt die Initiative. Indem sich der Suchende ganz Gott überlässt, mehr und mehr „eins“ mit ihm wird, geschieht Veränderung: „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und dazu bestimmt, dass ihr euch aufmacht und Frucht bringt und dass eure Frucht bleibt“ (Joh 15,16). Den drei Phasen des Weges entsprechen auch verschiedene Praktiken des Gebets. Sie führen von vorformulierten Gebeten und Bitten über freiere, selbst formulierte Gebete hin zum Schweigen und zur Kontemplation als einem „inneren Gebet“.

Vom jetzt erreichten Punkt überblicken wir auch die Hindernisse, die sich dem mystischen Frommen von heute wie jenem zu Zeiten Rahners entgegenstellen. Nach wie vor bedarf es einer Neujustierung der christlichen Religion und Frömmigkeit, weg von einer Religion der Äußerlichkeit, des rechten Bekenntnisses, des Dogmas, des recht verwalteten Kultes und des Gesetzes hin zu einer mystischen Frömmigkeit der Erfahrung, die weniger weiß, weniger urteilt und weniger lautsprecherartig verkündet. Diese Frömmigkeit wird sich wohl weniger im institutionell umgrenzten und personell kontrollierten Raum der Kirche und mehr im Leben und Alltag des Einzelnen abspielen und zeigen. Dem entspräche eine Verlagerung der Aufmerksamkeit weg vom Selbsterhalt der Institution Kirche und hin zur jesuanischen Reich-Gottes-Verkündigung: „Sucht aber zuerst sein Reich und seine Gerechtigkeit; dann wird euch alles andere dazugegeben“ (Mt 6,33). Damit ginge aufseiten der Institution Kirche das Erfordernis eines Verzichts auf Machtausübung und disziplinierender Kontrolle einher. Die Gemeinschaft und damit die Kirche spielt beim skizzierten Paradigmenwechsel jedoch weiterhin eine unersetzbare Rolle. Denn der geistliche Weg braucht sowohl die Weggefährtenschaft als auch die correctio fraterna. Nicht dass am Ende das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird und die zu überwindende falsche Kirchenfrömmigkeit in eine unkritische „Selbstreverenz“ (Franz- Xaver Kaufmann) des Einzelnen umschlägt.

Die Individualisierung scheint mir jedoch unumkehrbar. Sie ist im positiven Sinn ja das Signum der Freiheit jedes einzelnen Neuanfängers. Und sie ist eine Chance für die geistliche Begleitung wie auch jegliche Seelsorge. Ihre Aufgabe könnte darin bestehen, jede und jeden zum Gehen des eigenen geistlichen Weges zu ermutigen. Das wird je besser gelingen, desto mehr Seelsorgerinnen und Seelsorger als solche wahrgenommen werden, die selbst etwas erfahren haben und die selbst bereit und offen sind, stets neu dem Unbegreiflichen zu begegnen und sich von Gott her verwandeln zu lassen.

 

Text: Dr. Jörg Kohr

 

Fußnoten:

1  Karl Rahner: Frömmigkeit früher und heute, in: ders., Schriften zur Theologie, Bd. VII, Einsiedeln u.a. 1966, 22f.

2  Carl Friedrich von Weizsäcker: Der Garten des Mensch- lichen. Beiträge zur geschichtlichen Anthropologie, München 91977, 61

3  Franz Jalics: Kontemplative Exerzitien. Eine Einführung in die kontemplative Lebenshaltung und in das Jesus- gebet, Würzburg 152014, 13