Ich glaube mehr und mehr daran, dass Kirche in Form von pastoralem Personal im Lebensalltag der Menschen viel präsenter sein sollte, dass wir noch viel mehr rausmüssen aus den gewohnten Strukturen.
Frau Seelhorst, Seelsorge ist ein breites Feld. Was hat Sie bewogen, Ihrer Tätigkeit als Seelsorgerin ausgerechnet bei der Bundeswehr nachzugehen?
Ehrlich gesagt war das tatsächlich der Ruf nach Abenteuer. Nach dem Eintauchen in eine Welt, von der ich noch gar keine Ahnung hatte. Ich habe mich schon immer gerne mit Menschen unterhalten, die nicht auf den ersten Blick mit Kirche zu tun haben, denn da wird es lebendig, in diesen Gesprächen wächst Glaube, oft auf beiden Seiten. Ich glaube mehr und mehr daran, dass Kirche in Form von pastoralem Personal im Lebensalltag der Menschen viel präsenter sein sollte, dass wir noch viel mehr raus-müssen aus den gewohnten Strukturen.
Für wie viele Menschen sind Sie als Seelsorgerin und Ansprechperson in Ihrer „Kategorie“ zuständig?
Ich betreue insgesamt sechs Kasernen, in denen rund 1200 Soldatinnen und Soldaten ihren Dienst tun. Hinzu kommen bei Bedarf deren Familien. Außerdem bin ich an einer Ausbildungseinrichtung der Bundeswehr, die rund 6000 Soldatinnen und Soldaten jährlich aus- und weiterbildet. Auch für sie bin ich während der Dauer ihrer Lehrgänge zuständig. Hin und wieder wenden sich auch zivile Angestellte der Bundeswehr an mich und im Auslandseinsatz bin ich natürlich für alle Soldatinnen und Soldaten vor Ort zuständig. Sie kommen jedoch aus ganz Deutschland, wodurch sich ein großes, deutschlandweites Netzwerk ergibt.
War es für Sie schon immer ein Herzenswunsch, in die Militärseelsorge zu gehen oder konnten Sie sich vor Ihrer Ausbildung auch einen anderen Bereich vorstellen?
Eigentlich war das Zufall. Ich habe das Theologiestudium mit der Absicht begonnen, in der Gemeinde zu arbeiten. Auf dem Katholikentag in Mannheim 2012 habe ich zufällig den Stand der Militärseelsorge entdeckt. Die Leute am Stand erzählten mir von ihrer Tätigkeit und ich war so begeistert, dass ich fragte, wann ich denn dort anfangen könnte. Damals sagten sie mir, dass Seelsorgerinnen und Seelsorger oft erst mit 10, 15 Jahren Berufserfahrung in die Militärseelsorge kommen. Kurze Zeit später erfuhr ich über das theologische Mentorat, dass eine Kooperationsvereinbarung zwischen der Diözese Rottenburg-Stuttgart und dem Katholischen Militärbischofsamt (KMBA) vereinbart wurde: Pastoralreferentinnen und Pastoralreferenten sollten die Möglichkeit erhalten, die Berufseinführungsphase in der Diözese zu machen, um nach den drei Jahren direkt in die Militärseelsorge zu gehen. Diesen Weg verfolgte ich also, und was soll ich sagen – eine hervorragende Entscheidung oder vielleicht sogar Fügung.
Wie sieht ein durchschnittlicher Arbeitstag bei Ihnen aus? Gibt es in Ihrem Dienst überhaupt so etwas wie einen beruflichen „Alltag“?
Der Alltag ist, dass es keinen Alltag gibt. Militärseelsorge beruht auf vier Säulen: Seelsorge, Gottesdienst, Lebenskundlicher Unterricht und Einsatzbegleitung.
Seelsorge lässt sich nicht planen, Menschen kommen, wenn sie Unterstützung brauchen. Das Schöne bei der Bundeswehr ist, dass dieses Angebot stark wahrgenommen wird, deutlich stärker, als ich es aus der Zivilgemeinde kenne. Mehrere Seelsorgegespräche pro Woche sind keine Seltenheit. Gottesdienste finden in der Regel ein Mal im Monat statt und zu besonderen Anlässen. Auch die werden von Soldatinnen und Soldaten egal welcher Konfession oder Religion sehr geschätzt. Denn sie bieten einen Blick auf das Mehr des Lebens und auch immer die Gelegenheit zum geselligen Zusammenkommen. Vor allem in den Einsätzen sind Gottesdienste ein wichtiges Ritual für viele, egal ob gläubig oder nicht. Lebenskundlicher Unterricht ist so eine Art Angewandte Ethik, in der es immer um die Frage geht „Wie gelingt Leben?“. Was ist für mich wichtig, was ist für andere wichtig, wie entstehen Konflikte, wie kann ich damit und mit weiteren Belastungen umgehen?
Was macht in alldem für Sie gerade die Arbeit in der Militärseelsorge so einmalig und besonders?
Soldatinnen und Soldaten haben einen besonderen Zugang zu ihren existentiellen Lebensfragen, und sie haben Worte dafür, darüber zu sprechen. Daher werden Gespräche mit Soldatinnen und Soldaten sehr schnell sehr tief, was ich sehr schätze. Ich nehme wahr, dass sie überdurchschnittlich gut über ihre Lebensthemen sprechen können. Dies liegt an der Besonderheit des Dienstes: Beim Dienst an der Waffe geht es letzten Endes immer um Leben oder Tod, was alle großen Lebensfragen aufwirft. Außerdem bringt der Dienst mit sich, dass die allermeisten Soldatinnen und Soldaten pendeln, sie sind also oft (und lange) von Familie und Freunden getrennt und können kaum an festen Hobbygruppen teilnehmen. Als Parlamentsarmee haben die Soldatinnen und Soldaten auch eine größere Nähe zur Politik und reflektieren regelmäßig über Politik, Geschichte und Gesellschaft in der Politischen Bildung, was neben dem Lebenskundlichen Unterricht ein weiterer Pflichtunterricht für alle ist. Beide haben eine Auseinandersetzung mit Werten zum Ziel. Daher sind Themen wie Beziehung, Familie und Zeit immer sehr präsent. Außerdem vermischen sich bei der Bundeswehr wie bei kaum einem anderen Arbeitgeber die Arbeitsgruppen bezüglich Alter, Bildungsniveau und Lebensentwürfen. Das bringt eine große Vielfalt mit sich. Soldatinnen und Soldaten sind oft sehr direkt und schnell im Denken. Sie können klare Aufträge sehr schnell umsetzen, sie haben gelernt, Ziel und Zweck nicht aus den Augen zu verlieren. Das heißt zum Beispiel ganz konkret, dass sie mich völlig selbstverständlich als Pfarrerin ansprechen, weil das nun mal der Name meiner Funktion ist. Und Kirche gilt in ihren Augen dann als veraltet, weil sie das noch nicht verstanden hat, dass Menschen nach Funktionen angesprochen werden.
Solche Gespräche mit Soldatinnen und Soldaten werden auch für Sie selbst nicht immer leicht sein, besonders wenn schwierige Einsätze oder traumatische Erfahrungen im Mittelpunkt stehen. Gab oder gibt es Momente, in denen auch Sie mit Ihrem eigenen Glauben an Ihre Grenzen kommen?
Nein. Denn Gott trägt immer. Das klingt vermutlich unerträglich fromm, ist aber ernst gemeint, da ich Gott so fühle und erlebe. Außerdem gibt es ein großes Hilfsnetzwerk für Soldatinnen und Soldaten: Militärseelsorge, Truppenärzte, Sozialdienst und Truppenpsychologie. Dieses Netzwerk trifft sich regelmäßig zu Fallbesprechungen. Ziel ist es selbstverständlich, Soldatinnen und Soldaten zu helfen. Als positiven Nebeneffekt profitiert aber auch das Netzwerk selbst von interdisziplinären Fallbesprechungen. Hier darf ich immer wieder die Erfahrung machen, dass ich nicht alleine bin, sondern dass die Kolleginnen und Kollegen ähnliche Erfahrungen machen, was für mich wiederum zeigt, wie Gott mich trägt.
Welche Rolle spielt der Glaube für die Soldatinnen und Soldaten in ihrem Alltag?
Viele Soldatinnen und Soldaten erzählen mir, dass der Glaube für sie eine Rolle spielt. Aber weniger im Dienstalltag, und vor allem nicht in der Kirche. Viele von ihnen sind ausgetreten und sind davon überzeugt, dass sie eine Kirche für ihren Glauben nicht brauchen. Das sehe ich anders. Meiner Meinung nach braucht es die Institution, um gewisse Glaubensinhalte zu tradieren und ihre Verlässlichkeit hervorzuheben. Das führt natürlich immer zu interessanten Gesprächen. Soldatinnen und Soldaten schätzen die Standortgottesdienste, und vor allem die sonntäglichen Gottesdienste im Einsatz sind ein besonderes Ritual. Manchen geht es dabei weniger um Glaube, als vielmehr darum, einmal den Horizont zu erweitern, die Atmosphäre zu genießen, einen anderen Input zu bekommen. Denn gerade im Einsatz wird es sehr schnell sehr eintönig, und die Kapelle ist oft der schönste Raum im Camp.
Wie Sie bereits berichtet haben, unterrichten Sie die Soldatinnen und Soldaten im Rahmen Ihrer Seelsorgetätigkeit auch vor Ort. Was ist Ihnen bei der Ausbildung und in Ihrem Unterricht dabei besonders wichtig?
Mir ist es wichtig, dass sie in meinem Unterricht einen Safespace erleben, in dem sie alles sagen dürfen, zum Beispiel auch über Tabus sprechen. Denn ich mache die Erfahrung, dass so Vieles ungesagt bleibt, was wichtig ist ausgesprochen zu werden.
Außerdem habe ich einen Bildungsauftrag und Bildung geschieht auch über Lesen, auch wenn manche darüber meckern, wenn Textarbeit angesagt ist.
Mir ist es wichtig, ihren Dienstalltag zu verstehen und auch ihre Sprache. Im Unterricht möchte ich ihren Dienstalltag und ihre Sprache mit ethischen Fragen verknüpfen und ihnen so die Tiefendimensionen des Menschseins näherbringen.
Als Militärseelsorgerin, die täglich mit den unterschiedlichsten existenziellen Erfahrungen konfrontiert wird, und als gläubige und überzeugte Christin: Glauben Sie, dass es einen Ort gibt, an dem Gott nicht gegenwärtig ist?
Nein. Kurze, stumpfe Bundeswehrantwort. Die Theologin in mir fügt hinzu: Denn in jedem von uns Menschen steckt ein Funken Gott, daher geht Gott im ganzen Leben mit, in allen Höhen und in allen Tiefen.
ZUR PERSON
Maike Seelhorst (33) ist ausgebildete Pastoralreferentin und seit September 2022 katholische Militärseelsorgerin für Soldatinnen und Soldaten bei der Bundeswehr. Neben seelsorglicher Begleitung und lebensweltlichem Unterricht steht dabei vor allem eines für sie im Mittelpunkt: der einzelne Mensch.
TEXT: DOMINIK KUNEK (25)